Was Wähler übel nehmen

Die Anhänger von Schwarz-Gelb und Rot-Grün reagieren höchst unterschiedlich auf Verfehlungen ihrer Politiker. Bürgerliche Wähler stoßen sich an moralischen Fehltritten, die Linken an der Gier.

Düsseldorf In Großbritannien gilt die eherne Regel, wonach konservative Politiker über Sex-Affären, die der Arbeiterpartei Labour über das Geld stürzen. Das politische Geschäft in Deutschland unterscheidet sich von den Gepflogenheiten auf der Insel. Aber auch hierzulande nehmen die Wähler höchst unterschiedlich übel. Bei Fragen der Moral geht es den Konservativen an den Kragen, eine üppige Lebensführung schadet den Linken.

Die Affäre um Sex mit einer Minderjährigen, die den schleswig-holsteinischen Spitzenkandidaten Christian von Boetticher zum Rücktritt zwang, trifft die CDU im Norden trotz aller gesellschaftlichen Aufweichungen mitten ins Herz. Wer ein Spitzenamt anstrebe, müsse andere Ansprüche an sich zulassen, beschied ihm sein einstiger Förderer Peter Harry Carstensen (CDU). Der Kieler Ministerpräsident meinte damit, dass von Boetticher mit seinem Verhalten die Wertvorstellungen christdemokratischer Wähler empfindlich verletzte. Er hatte recht: Nur ein paar Tage später zog die SPD in Umfragen zur Landtagswahl im kommenden Jahr an der Union vorbei. "Wer die eigene Klientel so vor den Kopf stößt, erzeugt Wut und die Bereitschaft zur schnellen Bestrafung", meint der renommierte Göttinger Parteienforscher Franz Walter.

Die CDU ist eine Partei, die auf Werte wie Ehe, Familie, Verantwortung, Ehrlichkeit und Leistung setzt. Sie sah darin seit ihrer Gründung nach dem Krieg den besten Schutz vor Verwerfungen des Totalitarismus wie des ungezügelten Individualismus. Auch wenn dies im Kern bereits kräftig aufgeweicht wurde, so bestehe bei den Unionswählern "eine Sehnsucht nach diesen Werten", meint Parteienforscher Walter. Wer dagegen verstößt, hat es schwer in der Union.

CSU-Chef Theo Waigel musste ebenso auf den Posten des bayerischen Ministerpräsidenten verzichten wie der frühere Landwirtschaftsminister Horst Seehofer im ersten Anlauf. Der verheiratete Waigel hatte sich in die Ärztin und einstige Weltklasse-Skifahrerin Irene Epple verliebt und sich später von seiner alkoholkranken Frau scheiden lassen.

Seehofer hatte ein uneheliches Kind mit einer Fraktionsmitarbeiterin, ließ sich jedoch nicht scheiden. Als direkter Nachfolger von Edmund Stoiber kam er 2007 deshalb nicht in Frage. Erst als die CSU in Bayern die absolute Mehrheit verlor, sahen die Christsozialen über die Affäre hinweg. Ganz verziehen haben sie ihm bis heute nicht. In Fragen der Moral sei der "Wähler nicht flexibel", meint der Politologe Walter.

Großzügiger gehen die Wähler dagegen mit Verfehlungen der Konservativen bei Spenden, Industriejobs oder lukrativen Beraterverträgen um. So prophezeiten auf dem Höhepunkt des CDU-Spendenskandals viele Christdemokraten einen ähnlichen Zusammenbruch wie deren Schwesterpartei in Italien. Doch die CDU erholte sich rasch wieder, Helmut Kohl, der die Namen seiner illegalen Spender nicht nennen wollte, wird heute wieder als Kanzler der Einheit geehrt.

Der FDP-Spitzenpolitiker Otto Graf Lambsdorff wurde sogar als verurteilter Steuerhinterzieher zum Chef der Liberalen gewählt und genoss hohes Ansehen. "Er hat ja nicht in die eigene Tasche gewirtschaftet", entschuldigten führende FDP-Politiker seine gesetzwidrigen Spenden-Sammelaktionen. Die Linke leidet unter vergleichbaren Fällen viel mehr. Der Skandal um die Gewerkschaftsunternehmen Neue Heimat (Wohnungsbau) und Coop (Lebensmittel) verhinderte lange eine Erholung der SPD in den 80er Jahren. "Lass doch wenigstens das Golfspielen", herrschte der inzwischen verstorbene DGB-Chef Heinz Oskar Vetter den Gewerkschaftsmanager Albert Vietor an, der sich angeblich an den dunklen Geschäften seiner Neuen Heimat bereicherte.

Heute nehmen die SPD-Wähler ihrem einstigen Kanzler Gerhard Schröder die lukrativen Posten vor allem bei russischen und britischen Öl- wie Gasunternehmen übel. "Wer sein ganzes Leben eine solche Branche politisch bekämpft hat, darf nicht als Privatmann deren Geld annehmen", erklärt Walter die Empörung der SPD-Wähler.

Genauso ergeht es Joschka Fischer, dem einstigen Übervater der Grünen, der jetzt beim Essener Atomkraftbetreiber RWE im Sold steht. Als er beim Höhenflug seiner Partei als Kanzlerkandidat gehandelt wurde, machten viele in der Partei schnell klar, dass sie genau das nicht wünschten. Den extremeren Parteimitgliedern gilt er gar als Verräter am gemeinsamen Kampf zum ökologischen Umbau der Republik.

Dass Schröder viermal verheiratet war, Fischer sogar auf fünf Ehefrauen kommt, hat dagegen weder die Genossen noch die Grünen gestört. Dafür mussten sie sich Witze gefallen lassen: Schröder wurde wegen vier Eheringen liebevoll als "Audi-Kanzler" verspottet, Fischer als Olympier (fünf Ringe).

(RP)
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