Kampf gegen Kindesmissbrauch „Die Hälfte der Täter ist nicht pädophil“

Interview | Düsseldorf · Sexualisierte Gewalt gegen Kinder soll künftig als Verbrechen behandelt – und bestraft werden. Ändert das etwas? Ein Gespräch mit einer forensischen Psychiaterin.

 Sexualisierte Gewalt gegen Kinder wird von unterschiedlichen Tätertypen verübt. Nach einem neuen Gesetz sollen solche Taten künftig als Verbrechen, nicht mehr als Vergehen behandelt werden.

Sexualisierte Gewalt gegen Kinder wird von unterschiedlichen Tätertypen verübt. Nach einem neuen Gesetz sollen solche Taten künftig als Verbrechen, nicht mehr als Vergehen behandelt werden.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Die Bundesregierung hat den Gesetzentwurf zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt auf den Weg gebracht. Das Kabinett billigte die Vorlage von Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD), mit der Kindesmissbrauch künftig als Verbrechen mit einem Strafrahmen von einem Jahr bis zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verfolgt wird. Bisher gilt der Missbrauch als Vergehen mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Auch Verbreitung und Besitz von Kinderpornografie sollen zum Verbrechen hochgestuft werden.

Was bringen härtere Strafen?

Nahlah Saimeh Strafmaße festzulegen, ist Aufgabe der Juristen und nicht der Psychiatrie. Von daher kommentiere ich Strafmaße nicht. Seit den letzten 20 Jahren wird sexuelle Gewalt aber deutlich stärker bestraft. Das Problem sexueller Gewalttaten an Kindern erfordert aber mehr Anstrengungen.

Nämlich?

Saimeh Die Hälfte der sexuellen Missbrauchshandlungen mit Kindern werden gar nicht von Pädophilen begangen. Nur etwa 40 Prozent der Täter sind explizit sexuell ansprechbar durch kindliche Körper. Wir tun immer so, als ob die Täter völlig fremde, unbekannte Wesen sind.

Männer aus den Büschen.

Saimeh Ja, auf jeden Fall nicht aus dem eigenen sozialen Nahfeld. Aber die Sexualforschung sagt, dass ungefähr drei Prozent aller Männer pädosexuelle Interessen haben. Das sind in Deutschland mehr als 200.000 Menschen. Sexuelle Handlungen dieser Art sind nicht akzeptabel. Wenn aber ein Mensch diese sexuellen Neigungen hat, dafür kann er nichts. Dann hat er die Verantwortung dafür, Kinder nicht zu behelligen. Es wäre also gut, wenn die Diskussion sachlicher würde. Wir brauchen mehr professionelle Therapeuten und gleichzeitig eine klare Reaktion des Rechtsstaates, wenn es zu Verbrechen kommt.

Wer sind denn die Täter, die nicht pädophil sind?

Saimeh Es gibt unterschiedliche Tätertypen. Für dissoziale, gewaltbereite Menschen sind Kinder schlicht die leichtesten Opfer, weil sie sich schlechter wehren können. Dann gibt es Machtmissbraucher, die sich alle Mitglieder in der Familie zu Untertanen machen. Jeder muss sexuell zur Verfügung stehen, sowohl die Frau wie auch die eigenen Kinder. Dann gibt es Fälle, in denen Väter ihre Töchter missbrauchen, weil sie in einer Ehekrise sind. Dann gibt es Leute, die aus irgendwelchen Gründen aus ihren geordneten Lebensverhältnissen herausfallen. Jemand lässt sich scheiden, fängt an zu trinken, verliert den Job, stürzt sozial ab, ist eigentlich auf erwachsene Frauen fixiert, ist aber nicht mehr in der Lage, Partnerschaften einzugehen. In solchen Situationen weichen manche auf Kinder aus. Gerade Kinder, die sonst wenig Aufmerksamkeit bekommen, sind dann leicht mit Pommes und Cola zu gewinnen und nehmen die Aufmerksamkeit erst mal an. Solche Täter gestalten ihre Wohnung oft erst als offene Wohnung und fangen dann an, die Beziehung zu Kindern schrittweise zu sexualisieren. Viele Taten geschehen ja in einem Umfeld, wo Kinder auch völlig unkritisch Personen aus dem eigenen sozialen Nahfeld überlassen werden.

Auch der Besitz und die Verbreitung von Kinderpornografie soll ein Straftatbestand werden. Zielt das nochmal auf andere Täter, weil es in diesem Bereich auch ums Geld geht.

Saimeh Das wird immer so gesagt. Früher hat Geld sicher eine Rolle gespielt, aber inzwischen gibt es im Netz so viel Kinderpornografie, das man sich fragen kann, wer da noch Geld verdient. Es geht wohl eher um eine Community, die Missbrauchs-Bilder tauscht. Sie kommen in diese Gruppen erst rein, wenn sie eigene Bilder mitbringen. Man muss sich selbst strafbar machen, um Mitglied in dieser Community zu werden. Man zahlt mit Tauschware.

Ist das ein anderer Tätertypus als jene, die in Familien übergriffig werden?

Saimeh Das kann man so nicht sagen. Menschen mit pädosexuellen Neigungen leben sowohl in Familien und auch ungebunden. Es gibt auch Täter, die sich bewusst Frauen mit Kindern suchen, nicht, weil die Frau interessant ist, sondern weil sie Kinder im Zielalter hat. Das Sammeln von Kindesmissbrauchsbildern spricht für eine klare pädophile Neigung.

Auch der Sprachgebrauch soll sich ändern. Das Gesetz spricht nicht mehr von Missbrauch, sondern von sexualisierter Gewalt gegen Kinder. Verändert das etwas?

Saimeh Es ergibt schon Sinn, den Begriff des „Missbrauchs“ nicht im Bereich der Sexualität anzuwenden, denn Sexualität ist gekoppelt an Selbstbestimmung und von daher gibt es auch keinen „Gebrauch“. Es ist auch richtig, von Gewalt zu sprechen. Allerdings sind die Vorgehensweisen sehr unterschiedlich. Es gibt den Kernpädophilen, der mit pädagogischem Geschick Kinder für sich gewinnt, keine penetrativen Handlungen vornimmt, aber stark manipulativ sexuell übergriffig wird. Da ist wenig äußere Gewalt im Spiel, aber natürlich zeigt gerade dieser Beziehungsmissbrauch schlimme Wirkung. Sexualisierte Gewalt ist also ein guter Oberbegriff. Ich fände aber vor allem auch wichtig, dass noch ein anderer Begriff endlich auf der roten Liste landet.

Welcher?

Saimeh Der Begriff des Kinderschänders. Da wird impliziert, dem Kind sei Schande geschehen. Dem Kind wird ein Kainsmal aufgedrückt, das finde ich unerträglich. Aber das Kind hat ja gar keine Schande auf sich geladen. Darum sollten wir diesen Begriff nirgends mehr verwenden. Und wenn der Begriff des sexuellen Missbrauchs abgeschafft wird, wird auch die Unsitte abgeschafft, den Begriff auf Erwachsene anzuwenden.

Ist die Sensibilität in der Gesellschaft gegenüber Sexualstraftaten an Kindern aus Ihrer Sicht tatsächlich gewachsen?

Saimeh Ja, das kann man deutlich feststellen. Das Unrechtsbewusstsein in der Bevölkerung hat sich verändert, und das schlägt sich im Strafmaß auch nieder. Ich habe in Akten aus den 70er Jahren Urteile gelesen, die heute unvorstellbar sind. Da wurden Täter mit 2,5 Jahren Haft bestraft für Vergewaltigungen, die sich lesen wie Folter. Und ich benutze diesen Begriff nicht schnell. Oder es gibt ein Urteil aus derselben Zeit, da hat ein Mann seine Nachbarin in deren Ehebett vergewaltigt. Aber bestraft wurde er nicht für die Vergewaltigung der Frau, sondern für Beleidigung ihres Ehemannes. Da hat sich also durchaus etwas getan. Allerdings kann man mit Strafen den harten Kern der Täter nicht abschrecken. Die surfen im Darknet, obwohl sie wissen, dass da Spezialermittler unterwegs sind. Außerdem gehört zur Technik der sexuellen Gewalt gegen Kinder, dass ihnen ein Schweigegebot auferlegt wird. Täter versuchen ja immer, sich zu schützen. Wir müssen einen sachlichen und wirksamen Umgang mit dem Thema finden. Man wird diese Taten nicht aus der Welt schaffen, aber den Gelegenheitsneugierigen können härtere Strafen natürlich schon abhalten.

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