Düsseldorf Was die Mittelschicht auf die Straße treibt

Düsseldorf · Der Unmut über die Macht der Finanzmärkte und Banken, der sich weltweit in Demonstrationen Luft macht, trägt die Züge einer neuen sozialen Bewegung. Viele verstehen nicht, warum der Staat Kredit-Instituten unter die Arme greift, die ihnen selbst nur sehr zögerlich ein Darlehen gewähren.

Noch ist es nicht soweit, dass sich die aktuelle bürgerliche Protestbewegung radikalisiert und wie einst studentische "68er" in die Welt hinausschreit: "Macht kaputt, was euch kaputt macht." Noch sind die Menschen aus der Mittelschicht beziehungsweise solche, die bereits schuldlos aus diesem Hort der Bürgerlichkeit gefallen sind, nicht so tief gesunken, dass sie den alten Schlachtruf "Friede den Hütten, Krieg den Palästen" anstimmen.

Was sich jedoch in den Metropolen rund um den Globus vor kostbaren Fassaden von Bankhäusern und Regierungssitzen an Zorn über "die Herrschenden" ausgießt, trägt Züge einer neuen Bewegung. Deren Zeit scheint nun gekommen zu sein; was wiederum an den Befund erinnert, dass nichts so stark ist wie eine Bewegung, deren Zeit gekommen ist.

Die Mittelschicht versteht vieles nicht mehr: beispielsweise, dass man an den Finanzmärkten auf die Pleite ganzer Staaten spekulieren kann; dass die exorbitanten Gewinne des Finanzakrobatentums vereinnahmt, Verluste aber vergesellschaftet werden. – Letzteres jedes Mal hübsch und nicht ganz falsch garniert mit dem Hinweis, diese oder jene Bank sei systemrelevant, man dürfe sie deshalb nicht wie die Pleitiers von Lehman Brothers fallen lassen.

Die erbosten, erfreulicherweise noch nicht mutlosen Angehörigen der Mittelschicht fragen auch dies: Warum sie es in ihrem gewerblichen oder privaten Alltag manchmal sehr schwer haben, bei ihrer Bank einen Kredit zu bekommen, wenn dasselbe Institut bald darauf der Zockerei im großen, kaum durchschaubaren Stil überführt wird?

Die Mittelschicht mit dem ihr eigenen Aufstiegswillen fragt sich zunehmend, warum der alte Satz ("Ihr sollt es einmal besser haben als wir"), den Eltern und Großeltern an Kinder und Kindeskinder richteten, vor der Realität zu verblassen droht. Es sind oft die im Vergleich zu ihren Vorfahren besser ausgebildeten Kinder und Enkel, deren Fleiß und Einsatzwillen weit über die tariflich fixierte Wochenarbeitszeit hinaus nur bescheidene "Früchte" trägt, wenn es schlimm kommt: von einem mies entlohnten Praktikum ins nächste führt.

Das Schlimme ist, dass weite Teile der Mittelschicht, die sich wie selbstverständlich an hergebrachten bürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Recht und Ordnung orientiert, darüber lesen oder es am eigenen Leib erfahren, wie Akteure eines nicht gebändigten Finanzkapitalismus die alten soliden Verbindungen zwischen Tun und Haften, zwischen Führung und Verantwortung kappen.

Als der Papst in seiner großen Rede im Bundestag am 22. September den Satz des Kirchenlehrers Augustinus zitierte, wonach ein Staat ohne Gerechtigkeit bloß eine Räuberbande sei, mochten sich viele Abgeordnete gedacht haben: Wenn wir doch bloß könnten, was wir wollen, nämlich den "Raubtier-Kapitalismus" (Gräfin Dönhoff/Helmut Schmidt) zähmen, die großartige Idee der Sozialen Marktwirtschaft daheim wiederbeleben und zum deutschen Exportschlager jenseits von Daimler, Porsche und BMW machen – ja, dann wüchse in der Mittelschicht vielleicht wieder Vertrauen in die Fähigkeit der Politik, Dinge zu ändern, die zum Wohle der Allgemeinheit und der breiten Schichten der Bevölkerung geändert werden müssen.

Vor zehn Jahren etwa haben Teile eben der politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen an der Wall Street und in der Londoner "City" und anschließend nachplappernde deutsche Gurus des Neoliberalismus der Mittelschicht weismachen wollen, der entfesselte Markt, das freie Spiel der (nicht selten rohen) Kräfte bringe am Ende Nutzen für alle. Wer das damals Unsinn nannte, geriet in den Ruf eines Mittelschicht-Provinzlers mit Kreissparkassen-Horizont.

Heute weiß die Mittelschicht, von der es in Sonntagsreden salbungsvoll heißt, sie sei für die Gesellschaft das, was die Pfeiler für ein Haus sind, dass sie es jedenfalls nicht war, die von den Tollheiten der längst der Scharlatanerie überführten Entfesselungskünstler profitiert hat.

Sicherlich ist zu unterscheiden zwischen der US-Mittelschicht, die schon in die Abstiegszone driftet, und der deutschen Mittelschicht. Letztere weiß bei allen ökonomischen Sorgen des Tages, trotz aller finanziell auf Kante genähten privaten Haushalte immerhin, dass die sozialen Netze engmaschig geknüpft sind. Andererseits zeichnete sich die deutsche Mittelschicht seit jeher dadurch aus, dass sie niemandem gern auf der Tasche liegt, schon gar nicht staatlicher Fürsorge anheimfallen will.

Der Protest, der am Wochenende auch in deutschen Städten stattfand, war deshalb kein Hilferuf zur Rettung in der Not, aber auch kein Jammern auf hohem Niveau. Es handelt sich um einen Mahn- und Weckruf zu Maß und Mitte in Politik und Wirtschaft, zu mehr Gerechtigkeit, zu mehr sozialer Partnerschaft, gegen Ellenbogen-Attitüden verantwortungsloser Finanzmanager: Diese gefährden viel mehr als bloß ihren Ruf und den ihrer Geldhäuser.

(RP)
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