Das große Stühlerücken Warum viele Moderatoren von der ARD zu den Privatsendern wechseln

Düsseldorf · Mit Jan Hofer, Linda Zervakis und Pinar Atalay wechselt ein ganzer Schwung namhafter Nachrichten-Moderatoren von der ARD zu Privatsendern. Vom Exodus könnten beide Seiten profitieren. Der Zuschauer sowieso.

 Pinar Atalay bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreis 2019.

Pinar Atalay bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreis 2019.

Foto: dpa/Henning Kaiser

Der Markt folgt seit jeher dem Gesetz von Angebot und Nachfrage. Das ist auf dem Arbeitsmarkt so und in der Medienbranche nicht anders. Im Bereich der großen TV-Nachrichtenportale herrscht in diesem Zusammenhang derzeit mächtig Bewegung. Offenbar gibt es bei den Privatsendern gerade einen ziemlichen Bedarf an seriösen Sprechern und Moderatoren, denen die Öffentlich-Rechtlichen aktuell keine entsprechenden Angebote machen können. Und weil es an guten Leuten, die Karriere machen möchten, nicht mangelt, passiert etwas. So einfach ist das, versucht man den Ursachen auf den Grund zu gehen, warum in letzter Zeit so viele aus „Tagesschau“ und „Tagesthemen“ bekannte Gesichter zu RTL oder Pro Sieben gewechselt sind. So einfach und trotzdem nicht die ganze Wahrheit.

Nach Linda Zervakis, die Hamburg in Richtung München verlassen hat und ab Herbst bei ProSieben eine wöchentliche Liveshow moderieren wird, steigt nun auch Pinar Atalay bei der ARD aus und bei RTL ein. Spektakulär war schon der Wechsel von Jan Hofer zu Konkurrenz, wenngleich die Gründe für seinen Weggang offensichtlicher sind als die seiner beiden Kolleginnen: Der ehemalige Chefsprecher der „Tagesschau“ hatte nach 36 Dienstjahren die Altersgrenze erreicht. Im Bezahlfernsehen spielt das eine erheblich größere Rolle als im werbefinanzierten, und weil der vitale 69-Jährige erkennbar wenig Lust auf Ruhestand hatte, schlüpft er neben Peter Kloeppel in die Rolle des zweiten wichtigen News-Anchorman bei RTL, wo er als Gastgeber einer wochentäglichen Nachrichtensendung im Hauptabendprogramm auftreten wird.

Sofern Gerüchte über ein Zerwürfnis aufkommen, werden sie von beiden Seiten dementiert.  Zervakis und Atalay sahen wohl ebenfalls keine großen Entwicklungsmöglichkeiten bei ihrem bisherigen Heimatsender mehr, obwohl sie deutlich jünger sind als das „Urgestein“ Hofer. „Zervakis & Opdenhövel. Live“ heißt das neue, wöchentliche, zur besten Sendezeit (nach der „Tagesschau“ um 20.15 Uhr) ausgestrahlte Format bei Pro Sieben, bei dem die 45-Jährige zusammen mit Matthias Opdenhövel Politiker und Promis interviewen wird. Den Stolz darüber, nun als Marke promotet und wahrgenommen zu werden, anstatt eine von sieben Sprecherinnen und Sprechern der 20-Uhr-Ausgabe von Deutschlands zugegebenermaßen bekanntesten Nachrichtensendung zu sein, verhehlt Zervakis nicht. „Das hatte ich vorher noch nicht.“ Mit Opdenhövel verbindet sie übrigens der gemeinsame frühere Arbeitgeber. Der 51-Jährige moderierte zuvor die ARD-Sportschau – noch ein Abgang, aber einer, der zugleich eine Rückkehr ist: Opdenhövel kam von Pro Sieben, wo er unter anderem durch die Show „Schlag den Raab“ geführt hatte.

"Tagesschau" und "Tagesthemen": Das sind die Sprecher und Moderatoren
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Das sind die Sprecher und Moderatoren von „Tagesschau“ und „Tagesthemen“

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Foto: dpa/Janis Röhlig

Ähnlich wie Zervakis wird Pinar Atalay vor Augen gehabt haben, dass es auf absehbare Zeit schwierig werden dürfte, eine Moderatoren-Spitzenposition in der ARD einzunehmen, weil das schmale Feld mit Caren Miosga (52) und Ingo Zamperoni (47) dauerhaft besetzt scheint. Mag sein, dass neben der Aussicht auf mehr Popularität auch Geld eine Rolle gespielt hat. 259,89 Euro Honorar gibt es pro Tagesschau-Hauptausgabe. Möglich, dass die Konkurrenz deutlich spendabler auftritt, zumal Stephan Schmitter, Geschäftsführer von RTL News, unumwunden zugibt: „Wir sind im Angriffsmodus.“ Und so kommt es, dass die 43 Jahre alte Pinar Atalay  unter anderem am 29. August zusammen mit Peter Kloeppel das erste TV-Kanzlertriell zwischen Annalena Baerbock (Grüne), Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) moderieren wird.

Was Seriosität betrifft, ist Peter Kloeppel ein, wenn nicht das Aushängeschild im Bereich der Privaten. Seit 1992 hält er sich als Chefmoderator bei RTL aktuell. Ansonsten haben die Privatsender kaum markanten Nachrichten-Nachwuchs hervorgebracht, der in Erinnerung geblieben wäre. Peter Limbourg, der 2002 zusammen mit Kloeppel das erste Kanzlerduell im deutschen Fernsehen moderiert hatte und seit 2008 die Sat.1-Nachrichten präsentierte, wechselte 2013 als Intendant zur Deutschen Welle. Für ihn holte Sat.1 seinerzeit Marc Bator von der „Tagesschau“.

Nun aber, im Bundestagswahljahr 2021, gilt es, eine selbstverschuldete Scharte auszuwetzen. Es geht für die Privaten um mehr als nur um politische Kompetenz: Mit Casting, Spiel- oder Realityshows haben sie sich gründlich den Ruf eines Unterschichten-TVs erworben, doch über aggressive Schmuddel-, Primitiv- und Ekel-Formate im Fernsehen geht die Zeit gerade ein bisschen hinweg. Wer es niveau- und tabulos mag, wird im Internet fündiger. Zudem hat sich in der Pandemie gezeigt, dass faktenbasierter Journalismus, bei dem gründlicher Recherche und belastbaren Aussagen zählen, beim überwiegenden Teil des Publikums sehr gut ankommt. Ein starker Grund für die publizistische Kehrtwende, die sich gerade vollzieht – und die aktuell an der hektischen Einkaufstour der Privatsender bei der öffentlich-rechtlichen Konkurrenz sichtbar wird.

Dabei war der Transfer an guten Leuten jahrelang in die entgegengesetzte Richtung gegangen. Es waren die Privaten, die nach ihrem Sendestart vor fast 40 Jahren die TV-Landschaft gründlich aufgemischt hatten. Mit „Talk im Turm“ präsentierte Sat.1 spannende politische Diskussionen, von denen sich die etablierten Sender eine Scheibe abschneiden konnten. Die „Sportschau“ ähnelte bald in verblüffender Weise „ran“ bei Sat.1, Kai Pflaume, Markus Lanz, Reinhold Beckmann, Jörg Pilawa oder Johannes B. Kerner stehen heute für gute Unterhaltung in ARD und ZDF, begonnen haben sie ihre Karriere indes bei den Privaten.

Wie auch immer: Für Qualität in den Medien gibt es einen Markt. Nachfrage und Angebot sind vorhanden. Das bleibt unterm Strich eine gute Nachricht  –  für Macher und Konsumenten. Ein bisschen mehr Konkurrenz könnte den öffentlich-rechtlichen Dickschiffen schließlich auch nicht schaden. Insofern könnten alle Seiten vom derzeitigen Sprecher-Exodus profitieren.

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