Analyse Warum sind die Islamisten plötzlich so stark?

Berlin · Eine grausam wütende, radikal-islamische Gruppe, die im Irak Stadt für Stadt erobert, meldet täglich neue Erfolge. Sie droht, die Architektur des gesamten Nahen Ostens zu sprengen. Antworten auf die wichtigsten Fragen über Hintergründe, Dimensionen und Perspektiven.

Der Irak scheint überfordert, den Sturmlauf radikaler Islamisten-Milizen aufzuhalten. Nun fiel offenbar auch eine wichtige Öl-Raffinerie mitsamt Kraftwerk für die Stromversorgung Bagdads in die Hände jener Kämpfer, die sich einen "Islamischen Staat im Irak und in Syrien" (Isis) auf die Fahnen geschrieben haben. Der irakische Regierungschef Nuri al Maliki hat eine Woche nach Beginn des Islamisten-Vormarsches bereits ranghohe Militärs von ihren Aufgaben entbunden. Die irakische Regierung bat die USA gestern offiziell, sie im Kampf gegen Isis-Kämpfer mit Luftschlägen zu unterstützen. Wie konnte es so weit kommen? Und was passiert nun?

Wer steckt hinter Isis?

Ursprünglich versuchte das Terrornetzwerk Al Qaida die Schlagkraft regionaler islamistischer Zellen durch die Hoffnung auf einen länderübergreifenden Gottesstaat zu stärken. Inzwischen hat sich Isis verselbständigt. Sie fand beste Voraussetzungen in einem Irak, in dem Hunderttausende gut ausgebildete sunnitische Armee-Angehörige und frühere Anhänger von Saddam Husseins Baath-Partei arbeitslos geworden waren und gegen Unterdrückung auf Rache sannen. Im Kern geht es um einen religiösen Konflikt zwischen Schiiten (Anhänger al Malikis) und Sunniten (Isis-Kämpfer).

Welche Rolle spielt die Religion?

Sunniten und Schiiten bekämpfen sich seit dem siebten Jahrhundert. Auf beiden Seiten gibt es zwar eine große Bandbreite radikaler oder gemäßigter Strömungen. Letztlich verläuft die Trennung aber danach, ob eine Familie sich an der (weltlichen) Partei eines Schwiegersohns Mohammeds, der "Schia Ali", orientiert; oder ob sie sich auf den Brauch, die "Sunna", und damit die Religionsausübung zu Zeiten Mohammeds beruft. Weltweit sind die Sunniten zahlenmäßig im Verhältnis neun zu eins den Schiiten überlegen. In einzelnen Ländern wie im Irak sind die Verhältnisse umgekehrt. Saddam gehörte zur Minderheit der Sunniten, die aber den Norden des Iraks beherrschen. Die neuen Machthaber bevorzugen die Mehrheit der Schiiten, die aber nur im Süden stark sind.

Warum geht es auch um Syrien?

Machthaber Baschar al Assad (Schiit) erwartet mit Genugtuung, dass der Westen ihn nötig haben wird, um die Isis-Sunniten im Zaum zu halten. Die Isis wiederum verstärkt mit im Irak eroberten Waffen ihren Feldzug in Syrien und duldet keine andere Opposition.

Weshalb sprechen alle mit dem Iran?

Der schiitisch geprägte Iran setzt auf die arabische Redewendung "Der Feind meines Feindes ist mein Freund". In ihrem Bemühen, den Irak nicht in die Hände der Islamisten fallen zu lassen, sind die USA tatsächlich im Kontakt mit dem Iran. Parallel laufen die Verhandlungen um eine Aufhebung der Sanktionen, sollte sich der Iran beim Atomprogramm bewegen.

Kommt der Iran dem Westen entgegen?

CDU-Außenexperte Roderich Kiesewetter ist mit optimistischen Einschätzungen aus dem Iran zurückgekehrt. Deutlich wie nie habe das neue Regime unter Hassan Rohani die Bereitschaft erkennen lassen, eine Zweistaatenlösung für Israel und Palästina zu akzeptieren. Auch die Bereitschaft zur Transparenz beim Atomprogramm sei so groß, dass ein Ende der Sanktionen gegen den Iran in greifbare Nähe rücke.

Welche Interessen machen die Lage verworren?

Kurdische Unabhängigkeitskämpfer treten im Norden des Iraks gegen die Isis-Sunniten an. Diese haben rund 100 Türken in ihre Gewalt gebracht. Die Türkei misstraut den Kurden im Irak aber, weil sie separatistische kurdische Entwicklungen auch in der Türkei befürchtet. Andererseits ist Saudi-Arabien in Widersprüche verwickelt: Das sunnitische Regime rivalisiert mit dem Iran um Machtpositionen in der Region. Die Isis wird finanziert von saudischen Milliardären, gleichzeitig arbeitet das Land mit den USA zusammen.

Was droht der Welt?

Ein Krieg, in dem sich verschiedene regionale Konflikte heillos ineinander verheddern. Vom ungelösten israelisch-arabischen Konflikt über die sunnitisch-schiitische Auseinandersetzung bis hin zum Aufstand gegen westlichen Einfluss durch die (sunnitischen) Taliban in Afghanistan. UN-Blauhelme wären im Falle eines Krieges machtlos. Es gäbe eine gigantische Flüchtlingsbewegung und einen Einbruch der Weltwirtschaft. Auch die Gefahr von Terroranschlägen im Westen wüchse.

Was ist zu tun?

Die USA müssen den Irak in die Lage versetzen, Isis zu stoppen. Danach müssen die Konfliktursachen engagierter und systematischer angegangen werden als in den vergangenen Jahrzehnten.

(may-)
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