Ein Korrespondentenbericht aus Moskau Warum mich Russland deprimiert

Moskau · Nach der Annexion der Krim ist jede Annäherung Russlands an westliche Werte beendet, findet unsere Autorin Doris Heimann. Sie lebt seit vielen Jahren in Moskau – einem für sie aggressiven Land, das über einen wehrlosen Nachbarn herfällt.

Nach der Annexion der Krim ist jede Annäherung Russlands an westliche Werte beendet, findet unsere Autorin Doris Heimann. Sie lebt seit vielen Jahren in Moskau — einem für sie aggressiven Land, das über einen wehrlosen Nachbarn herfällt.

Die Krise überkommt mich ganz plötzlich. Zum ersten Mal in meiner Zeit als Moskau-Korrespondentin fühle ich mich unwohl in Russland. Der Hurra-Patriotismus, der die Russen nach dem Anschluss der Krim erfasst hat, macht mich krank. Den letzten Ausschlag für diesen Zustand gab eine Radiosendung. Seit Längerem trete ich live beim russischen Sender "Kommersant.fm" auf. Fünf Minuten Dialog über die aktuelle politische Situation. Der Sender ist eine kreml-kritische Station.

Dachte ich jedenfalls. Bis zur letzten Live-Sendung.

Unsere Autorin Doris Heimann.

Unsere Autorin Doris Heimann.

Foto: Privat

In der fragt mich der Moderator nach meinen Eindrücken, die ich während des Referendums auf der Krim gewonnen habe: "Wie gefällt es Ihnen, dass die Krim jetzt zu Russland gehört?" Ich sage, das sei eine Verletzung des Völkerrechts. Der Radiomann setzt nach: "Und wie gefiel Ihnen die deutsche Wiedervereinigung?" Die Frage ist eine dumme Provokation, typisch für die Stimmung im derzeitigen Russland. Trotzdem antworte ich ruhig und erkläre, dass die Wiedervereinigung ein Prozess von vielen Monaten gewesen sei, mit komplizierten Verhandlungen, an denen auch die Sowjetunion..." — "Gut, unsere Zeit ist abgelaufen!", schneidet mir der Moderator das Wort ab.

Noch am selben Tag beende ich die Zusammenarbeit mit dem Sender. Was bleibt, ist mein Frust. In den vergangenen sieben Jahren habe ich mich an den Gedanken gewöhnt, dass Russland mit dem autoritären System von Wladimir Putin nie vorankommen wird. Doch seit den Ereignissen auf der Krim gibt es eine neue Erkenntnis, die mich noch viel mehr deprimiert: Russland ist ein aggressives Land, das über einen wehrlosen Nachbarn in der Krise herfällt und sich ein Stück seines Gebiets unter den Nagel reißt. Und die meisten Russen finden das großartig. Neueste Umfragen zeigen, dass 90 Prozent der russischen Bevölkerung den Anschluss der Krim gutheißen. Man kann es nur tiefenpsychologisch erklären. Seit dem Ende der Sowjetunion leiden die Russen an post-traumatischem Stresssyndrom. Bis heute trauern 57 Prozent dem verlorenen Imperium nach. Ich kann sie beim besten Willen nicht verstehen. Wer hat Sehnsucht nach dieser grauen Schäbigkeit mit Plattenbau, Lada und Kohlsuppe?

Ich komme aus Westdeutschland. Als Studentin war ich immer wieder in der Sowjetunion, von 1987 bis zu ihrem Ende. Ich erinnere mich an meine russischen Freunde, die damals auf dem Schwarzmarkt ein Vermögen zahlten für westliche Turnschuhe, Jeans und Walkmänner. Die sich leere Marlboro-Schachteln und ausgetrunkene Cola-Flaschen in ihre Jugendzimmer stellten — als Zeichen der Sehnsucht und des Protests.

Oft hört man das Argument, es habe zu Sowjetzeiten zwar weniger Konsum, dafür aber mehr Solidarität gegeben. Dann denke ich an meine Russisch-Dozentin, die mir erzählte, wie sie sich mit ihrem Ex-Mann und dessen neuer Frau eine winzige Wohnung teilen musste. Die Behörden wollten ihr keine zusätzlichen Quadratmeter bewilligen. Oder an meine Kommilitonin, die mir anvertraute, dass sie schon mehrere Abtreibungen ohne Narkose hinter sich hatte, weil es in der Sowjetunion weder die Pille noch genügend Narkosemittel gab.

Keine Offenheit, keine Neugier mehr

Den Fall der Mauer, das Ende der europäischen Teilung, das Ende der Sowjetunion — das alles habe ich als innere Befreiung erlebt. Und als Zeit eines großen Aufbruchs in Russland. Es gab eine große Offenheit und Neugier. Das alles ist längst vorbei. Nach der Annexion der Krim ist jede noch so zögerliche Annäherung Russlands an westliche Werte vorerst beendet.

Kritische Websites werden geschlossen, andere Medien gleichgeschaltet, Systemgegner kriminalisiert. Ein renommierter Geschichtsprofessor, der das Vorgehen auf der Krim mit der Einverleibung des Sudetenlandes 1938 verglich, flog von einer Moskauer Hochschule. Ein neues Gesetzesprojekt sieht Gefängnisstrafen für Beamte vor, die Anweisungen des Präsidenten missachten.

Doch an Putins Wiederwahl 2018 zweifelt niemand. "Wir können die Krim doch nicht den Amerikanern überlassen", sagt eine Bekannte am Mittagstisch. Wahrscheinlich würden es die meisten Russen in ihrem Großmachts-Wahn auch noch gut finden, wenn Putin den Rest der Ukraine ebenfalls besetzt. Den Anschluss der Krim jedenfalls feierte Moskau mit einem gigantischen Feuerwerk, das die Scheiben in unserer Wohnung zum Zittern brachte. Für mich klang es wie Kanonendonner.

(RP)
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