Warum kam er frei?

Wie im Wahn trat ein 18-Jähriger in Berlin auf einem U-Bahnsteig auf den Kopf eines Bewusstlosen ein. Trotz dieser Tötungsabsicht ließ der Untersuchungsrichter den geständigen Tatverdächtigen laufen.

Berlin Bei diesen Bildern fällt es schwer, ruhig abzuwägen. Wie anders soll Mordlust aussehen wenn nicht so, wie es die Überwachungskamera vom U-Bahnsteig an der Friedrichstraße in Berlin am Samstag um 3.30 Uhr festhielt? Der junge Täter schlägt einen Mann nieder und tritt dann wieder und wieder gegen den Kopf des Bewusstlosen. Holt sogar extra viel Schwung. "Das ist Mord!", durchzuckt es den Betrachter der grausamen Bilder. Und erschüttert muss er erfahren, dass der Tatverdächtige vom Untersuchungsrichter auf freien Fuß gesetzt wurde.

"Wir sprechen hier Recht im Namen des Volkes und nicht im Namen der Stammtischhoheit." Feststellungen wie diese verschärfen den Konflikt zwischen der äußeren Wahrnehmung und den inneren Motiven der deutschen Justiz. Gesprochen hat den Satz die Richterin Andrea Diem – kurz nachdem sie Anfang 2010 einen 18-Jährigen in Ludwigshafen zu drei Jahren und zehn Monaten Jugendstrafe verurteilt hatte.

Die Bluttat in der Pfalz und die aktuelle aus Berlin weisen starke Parallelen auf. In beiden Fällen waren die Haupttäter gerade volljährig, alkoholisiert und aus purer Aggressionslust auf Unbeteiligte losgegangen, hatten sie jeweils mit Schlägen von den Beinen geholt und dann mit den Füßen auf die Köpfe der wehrlosen Opfer eingetreten. Und wie im Ludwigshafener Fall war auch in Berlin ein unerschrockener Helfer mit Zivilcourage dazwischengegangen und hatte unter Einsatz der eigenen Gesundheit den Tod des Opfers verhindert.

"Absoluten Vernichtungswillen" warf der Opfer-Anwalt dem Haupttäter im Fall Ludwigshafen vor. Und in Berlin wusste der bayerische Tourist Georg B. (21) Samstag nur eines: "Wenn du jetzt nichts machst, ist der tot."

Wie die Richter an der Spree urteilen, hängt vom Hauptverfahren ab. Am Rhein war der Versuch der Tötung – hier als bloße Körperverletzung verurteilt – nicht einmal vier Jahre Haft wert. In Berlin versteht die Familie des Opfers Markus P. (29) nicht, warum die Staatsanwaltschaft nicht von versuchtem Mord, sondern nur von versuchtem Totschlag ausgeht – und damit den Strafrahmen bereits auf unter zehn Jahre verkleinert. Und noch weniger versteht P., dass der Täter und dessen Kumpel umgehend auf freien Fuß kamen. Durch Zufall hat er überlebt, erlitt unter anderem einen Nasenbeinbruch und ein Schädel-Hirn-Trauma. Aber die Täter verbringen ihre Ferien in Freiheit.

Die Justiz erläuterte diese viele empörende Entscheidung mit dem Hinweis auf die zu prüfenden Haftgründe. Da der Beschuldigte sich gestellt habe und geständig sei, bestehe weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr. Er stamme aus geordneten Verhältnissen (sein Vater ist Jurist) und habe sich zuvor nichts zuschulden kommen lassen (er besucht eine Reinickendorfer Oberschule, nahm erfolgreich an Sportwettkämpfen teil).

Auch CSU-Rechtsexperte Norbert Geis fehlt das Verständnis. Bei einer derart schwerwiegenden Tat hätte Untersuchungshaft schon allein wegen des "erzieherischen Effektes auf den Täter" angeordnet werden sollen, sagte er unserer Zeitung. Zudem müsse der Staat zeigen, dass er solche Gewaltexzesse nicht tatenlos hinnehmen könne.

Internet Gewalt an deutschen Bahnhöfen – ein Überblick unter www.rp-online.de/panorama

(RP)
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