Gesellschaftskunde Warum es gut ist, Anekdoten zu erzählen

Es ist aus der Mode gekommen wie die Bierwurst, die Eckkneipe oder der Partykeller: das Anekdotenerzählen.

Früher gab es den Opa oder die Tante, die sich aus der Unterhaltung bei Kaffee und Kuchen oder am Gartenzaun die Stichwörter herausklaubten, die ihnen Anlass gaben für ein Geschichtchen von früher, eine Begebenheit aus der Historie, eine hübsche Anekdote. Meist kannte die Familie die schon, doch steuerten die erfahrenen Erzähler die Pointe stets ein wenig anders an, und lehrreich waren sie immer.

Natürlich haben die Jüngeren über diese gut abgehangenen Histörchen aus dem Familienschatz die Augen verdreht. Doch das Anekdotenerzählen ist eine unterschätzte Kunst. Es ist eine Art, Weisheiten an die nächsten Generationen weiterzugeben, ohne zu belehren. Denn es bleibt ja dem Zuhörer überlassen, wie er die Geschichte versteht. Ob er nur lacht — oder ob er sich auch ertappt fühlt, wenn vom alten Bach erzählt wird, der nach dem Tod seiner Frau einen Diener schickt, den Trauerflor zu kaufen. Und als der Diener am Abend die Rechnung beglichen haben will, den Kopf auf den Tisch legt und greint: "Sagt's meiner Frau."

Auch der Philosoph Ernst Bloch hat viele seiner utopischen Gedanken aus Anekdoten geboren. "Es ist gut, auch fabelnd zu denken", hat er mal gesagt. Manches lasse sich nur in Geschichten fassen, nicht im breiteren, höheren Stil. In seinen Werken hat Bloch vorgemacht, wie man aus scheinbar leichtgewichtigen Erzählungen Erkenntnis gewinnt. Indem man nach den Bruchstellen sucht, nach dem, was uns aufmerken, nachdenken, lächeln lässt. Diese Stellen deuten nach Bloch "auf ein Weniger oder Mehr, das erzählend zu bedenken, denkende wieder zu erzählen wäre". So kann an einer guten rheinischen Kaffeetafel lustig geplaudert werden und nahezu unbemerkt tauschen sich Menschen darüber aus, was für sie Standfestigkeit, Aufmüpfigkeit, Schlawinerei, ein guter Umgang zwischen den Geschlechtern ist. Es muss davon nicht hochtrabend, nicht einmal direkt die Rede sein, doch worüber man gemeinsam lacht, das festigt die gemeinsamen Werte.

Der amerikanische Schriftsteller Mark Twain hat einmal gesagt: "Für eine Anekdote braucht man drei Dinge: eine Pointe, einen Erzähler und Menschlichkeit." Es ist also ein bedenkliches Zeichen, wenn die Anekdote heute als überkommen gilt, als biederes Relikt aus redseligeren Zeiten. Menschen, die Anekdoten erzählen können, haben meist mehr zu erzählen als ihre kleinen Geschichten. Man muss nur richtig hinhören.

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(RP)
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