Gesellschaftskunde Warum das Internet ein gefährliches Panopticon wäre

Vielleicht ist das markanteste Merkmal der Moderne die Ungewissheit. Denn die Französische Revolution hat ja nicht nur bürgerliche Freiheit gebracht, sie hat auch die Sicherheit einer Ständegesellschaft fortgefegt und erst mal Chaos hinterlassen. Bürgerliche Freiheit gab es also nur um den Preis totaler Verunsicherung.

Das brachte Denker jener Zeit wie den Philosophen Jeremy Bentham dazu, totale Überwachungsapparate zu entwerfen, mit deren Hilfe der Staat die neue Ordnung verteidigen, wieder Sicherheit herstellen sollte. So entwickelte er die Idee vom Panopticon, rund gebauten Gefängnissen, in denen einzelne Überwacher möglichst viele Menschen gleichzeitig kontrollieren. "Größtes Glück für die größte Zahl" war für Bentham nur denkbar, wenn die wiedergeborene Ordnung radikal verteidigt, der einzelne effizient überwacht, Fehlverhalten geahndet – also alle Ungewissheit ausgeschaltet werden würde. Er wünschte sich den Staat als Panopticon – die Bürger als Insassen, unfrei, aber sicher.

Das Internet galt lange Zeit als der Gegenentwurf: Ein gigantisches Netz, chaotisch gewachsen, das sich um den Globus spannt, Menschen verbindet, freie Kommunikation garantiert. Und als sich bei den Revolutionen im arabischen Raum Leute über das Internet organisierten, um für ihre Freiheitsrechte zu kämpfen, schien das Internet als Werkzeug der Freiheit gesiegt zu haben. Doch die Ungewissheit blieb. Schließlich können auch Terroristen das Internet nutzen, um sich zu verbünden. Und so arbeiten Geheimdienste daran, das Internet unter Kontrolle zu bringen, die freie Kommunikation zu überwachen, Unwägbares auszuschließen – das Netz in ein Panopticon zu verwandeln.

Als Bentham im 18. Jahrhundert das ideale Gefängnis entwarf, trieb ihn die paradoxe Idee, totale Überwachung könne die Freiheit der Bürger sichern. "Größtes Glück für die größte Zahl" – dieses Ziel rechtfertigte für ihn jedes Mittel. Ähnlich argumentieren nun jene, die gutheißen, dass Geheimdienste das Internet zu kontrollieren versuchen. Es ist die alte Angst vor den Zumutungen der Moderne, vor der Ungewissheit, die sie träumen lässt, dass einzelne Überwacher möglichst viele Menschen im Griff haben.

Michel Foucault, der andere große Theoretiker des Panopticon, sah im Rundgefängnis das Sinnbild der modernen Disziplinargesellschaft. Schon in den 70er Jahren hat er die panoptische Macht als "kapillarisch" bezeichnet, weil sie Gesellschaften wie ein Gewebe venenartig durchdringe. Das Internet ist das größte Venensystem, das der Mensch geschaffen hat. Als Panopticon ist es nicht zu schlagen.

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(RP)
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