Vor 50 Jahren erste sozialliberale Regierung Als Deutschland neu durchstartete

Berlin · Diesen Montag suchen in Berlin zwei nach neuen gemeinsamen Perspektiven, die sich so fern sind und doch mal ganz nah waren: Die SPD und die FDP erinnern sich mit prominenter Besetzung, wie das war vor 50 Jahren, als sie ihre erste Koalition eingingen und das Wort „sozialliberal“ in der politischen Landschaft mal als Traum, mal als Albtraum wahrgenommen wurde.

 Willy Brandt führte die sozialliberale Koalition als Kanzler an. Hier eine Aufnahme mit seinem Sohn Matthias aus dem Jahr 1967.

Willy Brandt führte die sozialliberale Koalition als Kanzler an. Hier eine Aufnahme mit seinem Sohn Matthias aus dem Jahr 1967.

Foto: imago stock&people

Der 1. April ist in der nahe des Brandenburger Tors angesetzten Polit-Reminiszenz von SPD-Chefin Andrea Nahles und Christian Lindner eher nachrangig. Die eine wurde erst gut ein Jahr später geboren, der andere knapp zwei Jahrzehnte später. Die erste politische Sensation war am 1. April vor 50 Jahren bereits passiert: Obwohl die seit 1966 amtierende große Koalition aus CDU, CSU und SPD unter Kanzler Kurt-Georg Kiesinger und Vizekanzler Willy Brandt über eine überwältigende Mehrheit verfügte, hatte Brandt entschieden, dass es nach einem Freien Demokraten (Theodor Heuss) und einem Christdemokraten (Heinrich Lübke) Zeit für einen Sozialdemokraten als drittem Bundespräsidenten sei.

Kiesinger hätte es in der Hand gehabt, mit Richard von Weizsäcker einen CDU-Kandidaten zu präsentieren, der auch von der FDP wählbar und mit ihrer Hilfe durchsetzbar gewesen wäre. Doch das Zeitfenster dafür verpasste er. Das nutzte Brandt, um auf den naheliegenden SPD-Kandidaten Georg Leber zu verzichten und stattdessen den auch für die FDP akzeptablen Gustav Heinemann zu präsentieren. Das Ergebnis wurde dadurch beeinflusst, dass die Wahl in Berlin angesetzt wurde und wegen des Kalten Krieges alle Mitglieder der Bundesversammlung eingeflogen werden mussten. Einem guten Dutzend mochte man die Strapazen nicht zumuten. Umso knapper wurde das Ergebnis.

Im ersten Wahlgang fehlten Heinemann fünf Stimmen, im zweiten acht. Im dritten lag er dann gegen den damaligen CDU-Verteidigungsminister Gerhard Schröder mit sechs Stimmen vorn. Damit gab es erstmals eine sozialliberale Mehrheit in Deutschland. Denn die FDP-Mitglieder hatten den Ausschlag gegeben. Kurz darauf sprach Heinemann bereits von einem „Stück Machtwechsel“. Es lag etwas in der Luft, zumal nach einem kurzen Intermezzo in den 50er Jahren 1966 auch in NRW eine sozialliberale Regierung an den Start gegangen war, als dort die schwarz-gelbe Koalition zerbrach.

Eigentlich hatten sich einflussreiche SPD-Politiker zunächst darauf eingestellt, nach den Wahlen im Herbst 1969 ein weiteres Mal in einer großen Koalition den Menschen die Regierungsfähigkeit der Sozialdemokratie vor Augen führen und dann 1973 mit großer Mehrheit die Union ablösen zu können. Doch es kam am 28. September 1969 anders. Zwar wurde es für die FDP nach starken Verlusten angesichts von nur noch 5,8 Prozent verdammt knapp am Wahlabend, doch weil die SPD im Gegenzug 3,4 Prozent gewann, reichte es zusammen zur Mehrheit. Am 28. Oktober 1969 wurde 20 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik der erste sozialdemokratische Kanzler vereidigt. Kurz darauf sprach Willy Brandt die legendäre Ankündigung: „Wir wollen mehr Demokratie wagen.“

Das sozialliberale Bündnis ging in der Tat mit einem großen Reformeifer ans Werk, nahm die Diskriminierung von Homosexuellen weiter zurück, senkte das Wahlalter auf 18 Jahre, führte das Bafög ein und setzte auf mehr Gleichberechtigung durch Gesetz. Die zuvor an der Seite der Union aufgestellte FDP machte sich auch programmatisch frisch, in dem sie 1971 in den Freiburger Thesen den sozialen Liberalismus definierte.

Doch die inneren Reformen wurden überlagert von zwei Großkonflikten. Auf der einen Seite kämpften der rechte und der linke Flügel der SPD darum, ob die „Belastbarkeit der Wirtschaft getestet“ oder die Genossen die „Tassen im Schrank“ lassen sollten. Auf der anderen Seite entzweite die neue Ostpolitik die Nation. Die Union registrierte wachsenden Widerstand auch in der Koalition gegen den Kurswechsel und sogar Übertritte von Abgeordneten, bis Oppositionsführer Rainer Barzel sich ausrechnete, Brandt durch ein konstruktives Misstrauensvotum stürzen zu können. Am 27. April schaute die Nation gespannt nach Bonn. Barzel unterlag, und erst nach dem Ende der DDR bestätigte sich der Verdacht, dass die Stasi zwei Abgeordnete für 50.000 Mark für Brandt „gekauft“ hatte.

Eine Mehrheit hatten aber weder Union noch Koalition, und so kam es zu vorgezogenen Neuwahlen, bei denen die Intellektuellen in einer beispiellosen „Willy-wählen“-Kampagne Partei ergriffen. Am Ende wurde die SPD tatsächlich erstmals stärkste Partei und stellte mit Annemarie Renger die erste Bundestagspräsidentin. Die Entdeckung des DDR-Spions Günter Guillaume in unmittelbarer Umgebung des Kanzlers führte 1974 zu Brandts Rücktritt und zum Wechsel zu Helmut Schmidt, der die sozialliberale Koalition mit deutlich mehr Gewicht auf Realismus und Nüchternheit acht weitere Jahre fortsetzen konnte.

Am Anfang standen viele neue Impulse, die auch mit den für Aufbruch stehenden Personen zusammen hingen. Die SPD-Gestalter Erhard Eppler und Horst Ehmke saßen im ersten Kabinett von Brandt, und der Vordenker des Liberalismus, der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf, war Staatssekretär von Außenminister Walter Scheel. Am Ende war die Wirtschaftspolitik der letzten Regierung Schmidt Anlass für die FDP, die Seiten zu wechseln und Helmut Kohl an die Macht zu bringen. Dazwischen war die Vollbeschäftigung in weite Ferne gerückt, hatten sich die Staatsschulden versechsfacht. Und auf dem Feld der Inneren Sicherheit hatte die Radikalisierung von Teilen der Studentenbewegung und deren Abrutschen in den Terrorismus dazu geführt, dass Gesetze verschärft und der Polizeiapparat massiv aufgerüstet worden war.

(may-)
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