Analyse Von Birnen und Zwetschgen

Mit Helmut Kohls Tod sind die abgetreten, die das Land in Zeiten von Teilung und Vereinigung geführt haben. Die Großen sind gegangen - oder doch nicht? Wer ist eigentlich groß? Ohne Mut zum Neuen geht es jedenfalls nicht.

Die Bühne hat sich geleert. Mit Helmut Kohls Tod ist die Generation derer abgetreten, die die Bundesrepublik in Zeiten von Teilung und Wiedervereinigung geführt haben. Richard von Weizsäcker starb 2015, ebenso Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher 2016, jetzt Kohl. Es lebt in Deutschland kein Außenminister mehr, der vor 1992 amtiert hätte, kein Kanzler mit einer Amtszeit vor 1998, kein Bundespräsident der Jahre vor 2004. Die Bonner Republik ist, auch was die politische Generationenfolge angeht, Vergangenheit.

Da mag der Eindruck entstehen, heute wandelten allenfalls noch Scheinriesen in den Fußstapfen dieser Vorgänger. Thomas Gottschalk hat das in Bezug auf Kohl so auf den Punkt gebracht: "Wir haben ihn als ,Birne' verspottet. Heute sind in der Politik die Zwetschgen unterwegs." In dem Satz steckt späte Anerkennung, aber, bei aller Flapsigkeit, auch eine Portion politischer Kulturpessimismus.

Mit Kohl ist ein überaus bedeutender Politiker gestorben - das ist Konsens von links bis rechts. Aber geht es tatsächlich abwärts mit dem politischen Personal, jetzt, da die Einheitsmacher nicht mehr sind? Will man Birnen und Zwetschgen vergleichen wie Gottschalk - was ebenso legitim wie reizvoll ist -, dann stellt sich zwingend die Frage, wie sich denn historische Größe bemisst.

Lange ging das so: Alle paar Jahrhunderte blühte einem Staat, einem Volk einer (selten durfte es eine Frau sein), der "der Große" genannt wurde, "und zwar von keiner anderen nachweisbaren Instanz als der Geschichte selbst", wie der Historiker Theodor Schieder 1982 feststellte. Größe ergab sich aus einem oft obskuren Urteilsgemenge der Zeitgenossen und der Geschichtsschreiber. Frankenkaiser Karl war in diesem Sinne ein Großer, der russische Zar Peter I. oder Friedrich II. von Preußen. Die "Großen" waren häufig Eroberer, oder vornehmer: "Mehrer des Reiches". Mit etwas Glück waren sie für ihre Zeit auch gesellschaftlich fortschrittlich.

Dieser Maßstab ist brüchig geworden. Könige und Kaiser gibt es immer weniger; die Schrecken des modernen Krieges haben vielen die Lust ausgetrieben, Feldherren groß zu nennen. Die Wissenschaft hat zudem die Glaubwürdigkeit herkömmlicher Deutungsmuster ("Geschichte wird von großen Männern gemacht") kräftig reduziert.

Ein Nachhall des Alten findet sich noch in Joachim Fests Hitler-Biografie von 1973, die mit der Betrachtung beginnt, ob Hitler eine große historische Gestalt sei. Fest lässt Zweifel erkennen, antwortet aber nicht explizit. Er wägt Politik, Charakter, Verbrechen, räumt ein, der Begriff Größe sei womöglich insgesamt fragwürdig, zitiert aber auch den Kulturhistoriker Jacob Burckhardt, der im 19. Jahrhundert von "geheimnisvollen Koinzidenzen" zwischen Einzelnen und "der Gesamtheit" schrieb, von "magischem Zwang". Fest sieht eine "schwer entschlüsselbare Korrespondenz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen".

Solch hoher Ton ist uns heute fremd, erst recht bei Kohl, dessen familiäres Desaster weniger Ehrfurcht als Mitleid oder Schauder erweckt und der schon ohne seine Spendenaffäre politisch höchst umstritten war. In der Mediendemokratie ist das ein wichtiges Detail: Größe ist meist eine nachträgliche Erkenntnis; im Getümmel des Alltags ist ein verlässliches Urteil selten möglich.

Dass bei Kohl das allgemeine Urteil schon vor dessen Tod auf "große Gestalt" lautete, liegt folgerichtig an einem höchst unalltäglichen Ereignis: der deutschen Einheit. Kohl hat den "Mantel der Geschichte" ergriffen, wie er selbst gern sagte; und die Frage, ob die Ereignisse so oder ähnlich auch mit jemand anderem an der Spitze der Bundesregierung vorstellbar wären, lässt sich nicht ohne Weiteres bejahen. Auch wenn Geschichte nicht "von großen Männern" gemacht wird - nicht jeder ist deshalb austauschbar.

Groß ist also, ließe sich verallgemeinern, wer im Einvernehmen mit Partnern, gar ideologischen Gegnern Gelegenheiten ergreift und als richtig Erkanntes tut. Groß ist, wer dabei nicht tollkühn wird. Groß ist, wer den Mut hat, den Wind der Veränderung durchs Haus blasen zu lassen, statt die Fenster zu verriegeln, damit drinnen nur ja kein Staub aufgewirbelt wird.

Groß ist aber auch, wer diese Veränderung nicht nur zulässt, sondern sich von ihr verändern lässt. Denn Neues fordert ein Stück Preisgabe des Alten. "Vor uns türmen sich die Schwierigkeiten, und wir müssen mit den Schwierigkeiten wachsen", schrieb 1862 ein anderer Großer, Abraham Lincoln - jener US-Präsident, der um den Preis des Bürgerkriegs die Union der Bundesstaaten rettete und Hunderttausende schwarze Sklaven für frei erklärte. Auch wenn es um die Erfüllung eines Lebenstraums geht wie bei Kohl und der Einheit: Ein Prozess ohne Vorbild wie die Vereinigung ist technisch ein gigantisches Problem und damit eine Herausforderung der Handelnden. Kohl war nicht gerade von Selbstzweifeln geplagt und keiner, der es für nötig hielt, nach dem Scheitelpunkt 1990 sich oder seine Politik infrage zu stellen. Ergebnis war ein sehr langer politischer Abschied, bis zur Abwahl 1998. Weshalb festzuhalten ist: Größe erwächst nicht automatisch aus umfänglichen Amtszeiten.

"Die Dogmen der ruhigen Vergangenheit sind der stürmischen Gegenwart unangemessen", schrieb Lincoln auch: "Da unser Fall neu ist, müssen wir neu denken und neu handeln." Größe, und das ist das möglicherweise entscheidende, sicher am schwierigsten zu beurteilende Kriterium, beginnt im Kopf derer, die zu handeln haben.

Über Willy Brandts Ostpolitik Anfang der 70er Jahre und Kohls Tatkraft im welthistorischen Moment 1989/90 herrscht heute weitgehend Konsens. Über Angela Merkels Verhalten in der Flüchtlingskrise nicht. Man darf also weiter gespannt sein - auch im Zeitalter der Zwetschgen.

(fvo)
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