Vier Tote vor jüdischer Schule

Präsident Nicolas Sarkozy und sein Herausforderer François Hollande eilten umgehend nach Toulouse zum Tatort. Die Polizei ermittelt wegen Terrorverdachts gegen den unbekannten Serienkiller, der mutmaßlich auch drei Soldaten erschossen hat.

Die Morde beunruhigen die Nation.

Toulouse Die Jules-Dalou-Straße mit ihren rosa- und weißgetünchten Häusern, der Synagoge und der jüdischen Gesamtschule im Nordosten von Toulouse ist eigentlich eine ruhige und friedliche Wohngegend. Doch seit gestern herrschen dort Trauer, Entsetzen und hilflose Wut. Und der Schock hat auf ganz Frankreich übergegriffen: Verzweifelt versucht die Nation die Hintergründe des Blutbads zu begreifen, das ein unbekannter Killer in der jüdischen Schule angerichtet hat. Ist ein Terrorist unterwegs?

Repräsentanten der jüdischen Gemeinde und Politiker aller Couleur eilten bestürzt an den Tatort, Staatspräsident Nicolas Sarkozy sprach von einer "nationalen Tragödie". Offenkundig besteht ein Zusammenhang zu den mysteriösen Soldatenmorden der vergangenen Tage in der Gegend.

Es war kurz nach 8 Uhr, als der Täter auf einem Motorroller in die Straße einbog. Zu diesem Zeitpunkt hatten sich vor der Gesamtschule "Ozar Hatorah" bereits die ersten Kinder versammelt. Der Mann näherte sich dem Gebäude mit dem grünen Tor, stieg ab und schoss "auf alles, was sich bewegte", erklärte der Staatsanwalt von Toulouse, Michel Valet. Einige Kinder habe er sogar bis in den Schulhof hinein verfolgt. Anschließend ergriff er die Flucht.

Vier Menschen starben im Kugelhagel: die zehnjährige Tochter des Schuldirektors, ein Lehrer sowie seine beiden Kinder – das jüngste war erst drei Jahre alt. Ein weiterer Schüler, ein 17-jähriger Junge, schwebt in Lebensgefahr, andere Kinder wurden verletzt. Die kleine Alexia berichtete Fernsehreportern über die traumatischen Ereignisse: "Ich bin am Morgen an der Schule angekommen, dann habe ich Schüsse gehört. Wir haben alle große Angst gehabt."

Augenzeugen zufolge agierte der Täter mit extremer Abgebrühtheit: "Es war schlimmer als bei einer Hasenjagd, er schoss aus nächster Nähe auf die Menschen, manche waren nicht einmal einen Meter entfernt", erklärte der Vater eines Schülers, der den Mann beobachtet hatte.

Von "gnadenloser Kälte" sprach tränenerstickt die lokale Abgeordnete Catherine Lemorton: "Er versuchte ein kleines Mädchen zu töten, das sich verzweifelt bemühte, davonzulaufen." Noch Stunden später suchten weinende Eltern vor der Schule nach ihren Kindern.

"Wir kennen uns hier alle", sagte eine Bewohnerin des Stadtviertels. "Es ist, als sei unser eigenes Kind gestorben, dies kann wohl entsetzlicherweise jederzeit und überall passieren."

Für weitere Unruhe sorgt der Zusammenhang mit den mysteriösen Soldatenmorden der vergangenen Tage. Am Sonntag vor einer Woche war in Toulouse ein Fallschirmjäger auf offener Straße erschossen worden. Am vergangenen Donnerstag streckte ein Unbekannter nur 60 Kilometer entfernt, im Städtchen Montauban, zwei weitere Soldaten der 11. Fallschirmjägerbrigade nieder und verletzte einen anderen schwer. Auch dort fuhr der Täter auf einem Motorroller vor. Auch dort agierte er am hellen Tag und benutzte ebenfalls eine halbautomatische Waffe vom Kaliber 11,43.

Am späten Nachmittag meldeten französische Medien unter Berufung auf ballistische Untersuchungen, dass es sich bei allen drei Anschlägen um ein und dieselbe Waffe handelt. Über die Hintergründe wird indes weiter gerätselt. War nach den Soldaten-Attentaten zunächst über mögliche Vergeltungsakte im Milieu der organisierten Kriminalität oder die Wahnsinnstat eines Waffenfanatikers spekuliert worden, könnten die Attentate durchaus auch rassistisch motiviert sein. Immerhin handelte es sich bei den getöteten Fallschirmjägern teils um Nordafrikaner muslimischen Glaubens sowie einen Franzosen schwarzer Hautfarbe aus dem Überseegebiet Guadeloupe.

Der Vertreter der Anti-Rassismus-Organisation "SOS-Racisme", Dominique Sopo, wollte denn auch weniger von einem antisemitischen Anschlag als von einer Tat sprechen, die "wahrscheinlich einen rassistischen Hintergrund" habe. Es sei allerdings noch zu früh, um Rückschlüsse ziehen.

Auch die Justiz schließt bisher keine Spur aus und ermittelt in alle Richtungen, geht allerdings am ehesten von einem terroristischen Hintergrund aus. Die französische Staatsanwaltschaft leitete gestern in allen drei Fällen Ermittlungen wegen des Verdachts auf Terrorismus ein. Deshalb ist die Anti-Terror-Einheit GIGN der Gendarmerie ebenfalls alarmiert worden.

Staatspräsident Nicolas Sarkozy sagte eigens alle Wahlkampftermine ab und eilte in Begleitung des Präsidenten der jüdischen Dachorganisation CRIF, Richard Prasquier, nach Toulouse. "Dies sind nicht nur eure Kinder, das sind auch unsere Kinder", erklärte der Staatschef und ordnete für heute eine Schweigeminute in allen Schulen des Landes an.

"Ich kann nicht akzeptieren, dass man Kinder in einer jüdischen Schule massakriert, das ist eine Tragödie", sagte Sarkozy weiter und gab sich überzeugt, dass der Täter gefasst werden könne.

Auch sein sozialistischer Herausforderer François Hollande unterbrach seinen Wahlkampf und reiste an den Tatort. "Angesichts dieses Dramas gilt es, einen Moment der Einigkeit zu wahren", begründete der Politiker die Absage seiner Termine. "Ganz Frankreich" sei getroffen worden, erklärte Hollande, daher müsse die Republik geeint antworten. "Der Täter muss gestellt werden, und zwar so schnell wie möglich."

Die Kandidatin und Chefin der rechtsextremen Nationalen Front, Marine Le Pen, verurteilte ebenfalls die Tat. "Heute gibt es keinen Wahlkampf mehr, keine Politik, kein Rechts und kein Links mehr", erklärte die Juristin, die in der aktuellen Präsidentschaftskampagne Politik gegen Einwanderung macht.

Vor allen in jüdischen Schulen des Landes wurden unterdessen die Sicherheitsvorkehrungen verschärft, am Freitag war dies bereits für die Kasernen des Landes angeordnet worden.

Am Abend fanden Schweigemärsche statt. In der Region geht nun die Angst vor weiteren Anschlägen um. Der Bürgermeister von Toulouse, Pierre Cohen, verwies auf die Kaltblütigkeit des Täters: "Wir sind extrem beunruhigt." Bei Frankreichs Juden schlagen die Emotionen besonders hoch. Mit mindestens 530 000 Mitgliedern zählt das Land die größte jüdische Gemeinde Westeuropas. Allein in Toulouse leben Schätzungen zufolge bis zu 25 000 Juden.

(RP)
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