Analyse Verzeihung!

In der Kirche beichtet kaum noch jemand - im öffentlichen Raum sind "Beichten" an der Tagesordnung. Millionen Deutsche sind strenge Zuhörer. Die Maxime lautet: Wer sündigt, der soll auch bereuen. Politiker erst recht.

Analyse: Verzeihung!
Foto: Thomas Frey

Der Nächste, bitte! Es wird wieder kräftig gebeichtet in diesen Tagen. Wer sich die Nachrichten der jüngsten Vergangenheit vornimmt, der stößt auf Steuer-Beichten (Uli Hoeneß), Döner-Beichten (Nein, nicht Kevin Großkreutz, sondern Mesut Özil), Doping-, Sex- und Busen-Beichten (diverse Radprofis, Popstar Lana Del Rey, Boris Beckers Frau Lilly). Es gibt die "Beichte" von CSU-Chef Horst Seehofer (so schreibt die Nachrichtenagentur dpa), einen Telefontermin mit der Kanzlerin verpennt zu haben.

Und es gibt, unter diesen Geständnissen stark unterschiedlicher Bedeutsamkeit wohl am verstörendsten, eine "Drogen-Beichte" (so jedenfalls in Dutzenden Berichten bezeichnet): die des SPD-Bundestagsabgeordneten Michael Hartmann. Er hat zugegeben, die besonders zerstörerische Droge Crystal Meth genommen zu haben, um leistungsfähiger zu werden. "Herr Hartmann bedauert und bereut, die Betäubungsmittel erworben und konsumiert zu haben", teilte sein Anwalt mit. Seine Fraktions- und Parteiämter hat Hartmann daraufhin aufgegeben oder lässt sie ruhen.

Die Beichte, das Bekennen eigener Verfehlungen, hat Konjunktur. Zumindest die öffentliche, politisch-gesellschaftliche Beichte. Von der kirchlichen Beichte kann man das nicht sagen. Auch wenn keine Zahlen erhoben werden, so ist doch die Tendenz klar: Zur klassischen Einzelbeichte kommen immer weniger Christen. Schätzungswerte für die Katholiken bewegen sich im einstelligen Prozentbereich. In der evangelischen Kirche war die Beichte ohnehin nie Massenphänomen.

Was heißt das für die Politik? "Niemand geht in einer Demokratie heute noch davon aus, dass die Mächtigen von Gottes Gnaden eingesetzt sind", sagt Christoph Pistorius, Vizepräses der rheinischen Landeskirche und seit 24 Jahren Pfarrer: "Es gibt keine unantastbaren Berufe mehr - das gilt für Politiker wie für Ärzte und für Pfarrer." Für viele Politiker folge daraus: "Der Adressat der Rechtfertigung hat sich verschoben - von Gott zum Wähler."

Wer auf dieser Bühne seine Verfehlungen bekennt, der hat nicht einen Zuhörer, sondern zig Millionen. Der Wähler des Jahres 2014 aber neigt, anders als der liebe Gott, zur Ungnade. Unvorstellbar wäre heute zum Beispiel das Comeback nach Art eines Franz Josef Strauß, der 1962 in der "Spiegel"-Affäre an der Pressefreiheit sägte, als Verteidigungsminister abtrat, aber schon vier Jahre später wieder Finanzminister war.

Unvorstellbar ist der Mehrheit der Deutschen heute schon, dass ihr Ex-Bundespräsident Christian Wulff, der über eher tragikomische Vorwürfe der Kungelei stürzte, wieder ein politisches Amt übernähme: Knapp zwei Drittel sprachen sich noch vor wenigen Wochen dagegen aus. Ende 2012, knapp ein Jahr nach Wulffs Rücktritt, verneinten sogar 86 Prozent die Frage, ob sie Mitleid mit ihm empfänden. Nach Absolution klingt das alles nicht gerade. Dass Wulff sich zu seiner offiziellen Verabschiedung beim Großen Zapfenstreich mit "Da berühren sich Himmel und Erde" ausgerechnet ein klassisches Vergebungslied wünschte, ist nur die absurde Pointe der ganzen Geschichte.

Gütiges Wegsehen jedenfalls ist vom Wahlvolk auch demnächst nicht zu erwarten. Knapp die Hälfte der Deutschen sagte noch im Februar in einer Forsa-Umfrage, sie hege gegenüber Politikern höhere moralische Erwartungen als beim Normalbürger. Keine Mehrheit, aber völlig ausreichend für demoskopische Verheerungen im Fall des Falles. Schon 2009 hatte das Institut Emnid konstatiert, Vertrauen und Glaubwürdigkeit hätten Kompetenz als wichtigstes Entscheidungskriterium abgelöst.

Die Maßstäbe dafür, wer Vertrauen verdient und wer nicht, haben sich allerdings verschoben. "Heute geht es viel eher um das berufliche Handeln, um den Umgang mit Verantwortung, als um den Lebenswandel", sagt Pistorius. Ein schwuler Minister? Das war 2009 bis 2013, als Guido Westerwelle amtierte, den meisten egal. Ein getrennt lebender Bundespräsident, der mit seiner Lebensgefährtin ins Schloss Bellevue einzieht? Das regt in der Amtszeit von Joachim Gauck nur noch wenige auf.

Zu konstatieren ist also so etwas wie eine Professionalisierung der Bekenntnis-Kultur, weg vom Privaten, hin zum Öffentlichen. Das macht zugleich Fälle wie Michael Hartmann (Drogen) oder Karl-Theodor zu Guttenberg (Doktorarbeit abgeschrieben) einigermaßen kompliziert, weil sich hier Privates mit Beruflichem überlappt. Guttenbergs Plagiatsaffäre zerstörte das ohnehin mäßige Vertrauen in seine politische Seriosität vollends, und Hartmanns Crystal-Geständnis wirft zwei Fragen auf: ob ein Mann, gegen den wegen Drogenkonsums ermittelt wird, im Parlament sitzen darf, und ob der Druck im Politikbetrieb zu hoch ist.

Eins aber hat die weltlich-mediale "Beichte" heute mit der kirchlichen gemein: Ohne ehrliche Zerknirschung geht gar nichts. Wer sündigt, der soll auch bereuen. Margot Käßmanns Aufstieg von der Kirchenfunktionärin zur Kultfigur ist zu einem Gutteil der Tatsache geschuldet, dass sie 2010 ihre Verfehlung (eine Fahrt durchs nächtliche Hannover mit 1,5 Promille Alkohol im Blut) schnörkellos eingestand, mit ihrem Rücktritt die Konsequenzen zog und dem Ganzen den hoffnungsvollen Satz beigab: "Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand." Rücktritte von öffentlichen Ämtern haben sich seither an diesem Modell messen zu lassen. Und Käßmann ist inzwischen als "Reformationsbotschafterin" wieder ganz offiziell für die evangelische Kirche im Einsatz.

Rehabilitierung (theologisch gesagt: Vergebung) ist also möglich. Im Fall Michael Hartmann ist auch in dieser Hinsicht noch alles in der Schwebe. Er selbst hat von Reue und "Fehlverhalten" gesprochen - beziehungsweise sprechen lassen, denn die knappe Erklärung wurde über Hartmanns Anwalt verbreitet. Prompt kritisierte die "Frankfurter Allgemeine" streng das "halbherzige Geständnis", das "eher wie ein Lippenbekenntnis" wirke.

Der Nächste, bitte!

(RP)
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