Boris Pistorius im Baltikum Bloß keine offene Flanke
Verteidigungsminister Boris Pistorius reist nach Lettland und Estland. Das Versprechen, die Nato-Ostflanke zu stärken, hat im Baltikum auch große Erwartungen ausgelöst. Estland und Lettland wollen gemeinsam das deutsche Mittelstrecken-Flugabwehrsystem Iris-T erwerben – gegen Gefahr aus der Luft aus Russland und Weißrussland.
Es dauert beim Abflug aus Berlin etwas länger als geplant. Boris Pistorius erklärt die Verspätung: „Tut mir leid, Klimakleber.“ Aber dann kann es losgehen. Auf nach Riga, Lettland. Knapp zwei Stunden später ist der deutsche Verteidigungsminister wieder dort, wo es für die Nato in Europa besonders heikel ist. Es ist erst ein paar Wochen her, da hat das transatlantische Bündnis bei seinem Gipfeltreffen in Litauens Hauptstadt Vilnius noch einmal feierlich bekräftigt, seine Präsenz an der Ostflanke zu verstärken. Im Juli begrüßten deutsche Flugabwehr-Spezialisten mit ihren „Patriot“-Systemen am Flughafen von Vilnius die anfliegenden Gäste – als sichtbares Zeichen dafür, dass die Nato aufgestellt ist gegen mögliche Gefahren aus Richtung Osten. Nun ist der deutsche Verteidigungsminister erneut ins Baltikum gereist. Für drei Tage tourt er bis Mittwoch durch Lettland und Estland. Die baltischen Staaten wie auch Polen sind alarmiert, wie die Allianz insgesamt höchst wachsam ist, was sich an der Grenze und jenseits der Grenze zu Weißrussland und Russland entwickelt. Gerade im Baltikum befindet sich die wohl empfindlichste Stelle des Nato-Gebietes in Europa. Eingeklemmt zwischen der hochgerüsteten russischen Exklave Kaliningrad und Russland ist die nur 65 Kilometer breite Lücke von Suwalki, benannt nach dem polnischen Grenzort, die einzige Landverbindung der baltischen Staaten nach Polen. Hier könnte Russland leicht einen Keil zwischen die Nato-Partner treiben.
Schon Ende Juni, kurz vor dem Nato-Gipfel im Baltikum, hatte Pistorius beim Besuch in Vilnius ein Ausrufezeichen gesetzt, als er überraschend ankündigte, die Bundeswehr werde dauerhaft eine Kampfbrigade mit rund 4000 Soldatinnen und Soldaten in Litauen stationieren. Die Gastgeber jubelten und sicherten dem Gast aus Deutschland zu, man werde schnellstmöglich alles bauen oder herrichten, was es brauche, wenn komplette Soldatenfamilien nach Litauen umziehen: Kindergärten, Schulen, Wohnungen. Denn anders als bei bisherigen Auslandseinsätzen in Afghanistan, Mali oder Niger sollen die Kontingente eben nicht nach einigen Monaten ausgetauscht werden, sondern die deutschen Soldatinnen und Soldaten sollen dann dauerhaft – über Jahre – in Litauen leben. Das ist in der Geschichte der Bundeswehr ein bislang ziemlich einmaliger Fall. Offen ist unter anderem die Frage, wie viele Soldaten diesen Schritt tatsächlich mitgehen wollen.
Litauen, Lettland und Estland wollen sich – neben allen Beistandsabsichten der Nato-Partner -- gegen mögliche Gefahren aus Russland und Weißrussland besser wappnen und sind unter anderem am Kauf des deutschen Mittelstrecken-Abwehrsystems Iris-T interessiert. Lettland und Estland unterzeichneten mit dem deutschen Hersteller Diehl Defence eine Rahmenvereinbarung über den Kauf des Systems. Zudem lud Pistorius beide Staaten ein, sich künftig an dem von Deutschland initiierten europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield zu beteiligen, das Lücken bei der Flugabwehr in Europa schließen soll. Nach Angaben des Herstellers, der sich, wie in solchen Fällen üblich, über Angaben von Preis und bestellter Menge in Schweigen hüllt, schützt das Flugabwehrsystem Iris-T gegen Angriffe durch Hubschrauber, Flugzeuge, Marschflugkörper und ballistische Kurzstreckenraketen.
Das Gefühl von Bedrohung durch den großen Nachbarn im Osten ist im Baltikum allgegenwärtig, das bekommt auch Pistorius bei seinem Besuch zuerst in Riga zu hören, wo ihn Ministerpräsidentin Evika Silina empfängt und er sich mit seinem lettischen Amtskollegen Andris Spruds austauscht. Die Grenzen nach Russland und Weißrussland sind nah. Spruds macht dann auch deutlich, dass sein Land die Aggressionen aus Russland als „Langzeit-Bedrohung“ betrachte und dass jeder Beitrag „gleichgesinnter Länder“ für den gemeinsamen Schutz und speziell der Beitrag aus Deutschland für die regionale Sicherheit, etwa durch „Air Policing“ im baltischen Luftraum, sehr geschätzt werde. Pistorius macht beim Treffen mit Spruds denn auch deutlich, dass Deutschland bereit sei, seine Verantwortung in der Nato für das Baltikum zu übernehmen. Mit einer robusten Kampfbrigade in Litauen, mit der deutschen Beteiligung an der Nato-Übung „Northern Coasts“ und dem Angebot an die Nato, ein regionales Marinekommando für das Baltikum einzurichten. Und eben in der Luft durch Hilfe bei der Überwachung des Luftraums. „Wir stehen an eurer Seite“, versichert der deutsche Verteidigungsminister. Amtskollege Spruds nimmt es gerne zur Kenntnis. Schließlich kommt dann doch noch die Frage nach Lieferung von „Taurus“-Marschflugkörpern an die Ukraine auf. Spruds sagt trocken: „Das ist eine deutsche Entscheidung. Aber die Ukraine kämpft den Krieg von uns allen.“ Pistorius knapp: „Wir prüfen aktuell noch. Wir sind noch nicht fertig.“ Entscheidung offen.


