Analyse Verfassungsgericht auf Normalmaß

Düsseldorf · Erstmals hat das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof eine Entscheidung vorgelegt. Damit gibt es seine Position als Parallelinstanz der EU-Justiz auf, hinter der sich deutsche Politiker gerne verschanzten.

Lange haben unsere europäischen Nachbarn zwei deutsche Institutionen misstrauisch beäugt, die die deutsche EU-Politik mitunter stärker zu bestimmen schienen als die Bundesregierung: die Bundesbank und das Bundesverfassungsgericht. Deren Entscheidungen wurden häufig als politisches Diktat empfunden, mindestens aber als Feigenblatt für deutsche Interessenpolitik. Das hat sich geändert. Die Frankfurter Währungshüter haben ihre Macht eingebüßt, seit nicht mehr die D-Mark, sondern der Euro Leitwährung in der EU ist. Und seit gestern darf man sich fragen, ob nicht auch die Rolle des Bundesverfassungsgerichts auf Normalmaß zusammengeschrumpft ist.

Die Entscheidung der Karlsruher Richter, erstmals in einer konkreten Rechtsfrage eine europäische Instanz anzurufen, ist in jedem Fall historisch. Dabei spielt die konkrete Fragestellung, ob nämlich die Europäische Zentralbank (EZB) mit ihrem umstrittenen Anleihekaufprogramm im Rahmen der Euro-Rettung ihr Mandat überschritten hat, nur eine untergeordnete Rolle. In der Sache liegt der Zweite Senat unter Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle ziemlich nahe bei der Kritik vieler Euro-Skeptiker, die inständig gehofft hatten, die Hüter des Grundgesetzes möchten Deutschland endlich von der verhassten Einheitswährung erlösen. Aber diese konkrete Entscheidung haben die Verfassungsrichter aus der Hand gegeben. Nicht sie, sondern der Europäische Gerichtshof (EuGH) wird jetzt zu befinden haben, ob die EZB nach EU-Recht korrekt gehandelt hat.

In Wahrheit hatte das Bundesverfassungsgericht auch kaum eine andere Wahl. Es wäre schließlich nur schwer vorstellbar gewesen, dass in Karlsruhe über eine eminent europarechtliche Frage befunden wird, ohne den EuGH auch nur zu fragen. Indirekt erkennt Karlsruhe in dem schwierigen Verhältnis zwischen nationalstaatlicher und europäischer Gerichtsbarkeit allerdings erstmals eine Hierarchie und den Vorrang des Europa-Rechts an. Jahrelang hatte es durchaus Kompetenzgerangel zwischen beiden Institutionen gegeben, und Karlsruhe behält sich auch jetzt prinzipiell das Recht vor, über die letzten Grenzen der europäischen Integration aus deutscher Sicht zu entscheiden. Aber eben nicht an einer eher technischen Frage wie den EZB-Anleihekäufen. Das Bundesverfassungsgericht hat also nicht "abgedankt", wie sich jetzt einige Euro-Gegner empören. Es hat lediglich seinen Handlungsspielraum auf den Kernbereich nationalen Verfassungsrechts beschränkt.

Diese Entscheidung war unumgänglich geworden. Die immer stärkere Verschränkung und Überlagerung nationalen und europäischen Rechts hatte die offiziöse Position des Bundesverfassungsgerichts als einer Art Parallelinstanz der europäischen Justiz unhaltbar werden lassen. In der Präambel des Grundgesetzes ist der deutsche Auftrag verankert, die Integration in Europa voranzutreiben; gleichzeitig feierten Euro-Skeptiker die Hüter dieser Verfassung als letztes deutsches Bollwerk gegen das Diktat aus Brüssel. Dieser Spagat war nicht endlos auszuhalten.

Dass die voranschreitende Integration eine starke Sogwirkung Richtung Europa entfaltet, zeigt sich auch in anderen Bereichen des Rechts. So hat erst unlängst ein deutsches Sozialgericht den EuGH angerufen. Die Luxemburger Richter sollen klären, ob die im deutschen Sozialgesetzbuch verankerten Regelungen europarechtswidrig sind, die grundsätzliche Einschränkungen für die Auszahlung von Sozialhilfe an EU-Bürger vorsehen. Bereits zuvor hatten deutsche Richter sozusagen in vorauseilendem Gehorsam in Hunderten Einzelfällen gegen geltendes deutsches Recht entschieden – in der sicheren Annahme, dass die nationalen Regelungen am Ende keinen Bestand haben werden. Die Verwaltungsjuristen erfüllen damit lediglich ihre Aufgabe: die Überprüfung der Rechtmäßigkeit staatlicher Handlungen, aber auch der Stimmigkeit der Rechtsordnung.

Problematisch wird es freilich dann, wenn originär politische Weichenstellungen in die Gerichte verlagert werden. Diese Tendenz war in Deutschland immer schon sehr stark: Wenn sich die Politiker nicht einigen können, landete die Streitfrage am Ende in Karlsruhe, das dabei als eine Art verlängerte Werkbank der Politik missbraucht wird. Die Bundesverfassungsrichter haben sich, weit stärker als die meisten ihrer Kollegen in den übrigen europäischen Ländern, über Jahrzehnte daran gewöhnen dürfen, mit der Auslegung von Grundgesetzartikeln Politik zu machen.

Dass dies irgendwann zu Problemen in der Europapolitik führen musste, war absehbar. Das stets drohende Nein aus Karlsruhe war den europäischen Partnern zusehends schwerer zu vermitteln und schränkte den Spielraum deutscher Regierungen empfindlich ein. Gewiss, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat das Grollen aus Karlsruhe auch gerne als Argument benutzt, um ungeliebte Wünsche aus Paris, Rom oder London abzuwehren. Aber sich hinter den Purpur-Roben zu verschanzen, ersetzt ja noch keine gestaltende Politik.

In diesem Punkt bleibt die Position der Verfassungsrichter stichhaltig. Die Politik, so hatte es Gerichtspräsident Andreas Voßkuhle mit Blick auf die Euro-Krise bei seinem Amtsantritt im März 2010 formuliert, müsse mit offenen Karten spielen. Rolle des obersten deutschen Gerichts sei es sicherzustellen, dass die deutschen Bürger nicht versteckt Kompetenzen nach Brüssel abgäben. Die Betonung liegt auf "versteckt". Das politische Mitbestimmungsrecht der Deutschen darf nicht klammheimlich ausgehöhlt werden, wenn etwa über große Teile des Bundeshaushalts faktisch nicht mehr im Bundestag entschieden wird. Mehr europäische Integration ist denkbar, aber dann muss eben erst das Grundgesetz entsprechend geändert werden. Das geht übrigens ganz ohne den EuGH.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort