Sigmar Gabriel macht vom Wohnzimmer aus Politik Vater, Twitterer, SPD-Chef

Berlin · Sigmar Gabriel funktioniert das Wohnzimmer zur politischen Bühne um. Aus der Babypause in seiner Wahlheimat Magdeburg überzieht der oberste Sozialdemokrat via Internet das Land mit Positionen, Thesen und Ideen. Am 18. August heiratet Gabriel seine Lebensgefährtin Anke Stadler.

Er witzelt über die Kaffeetassen des "Bild"-Chefredakteurs, posiert neben dem Philosophen Jürgen Habermas auf einer Parkbank, zeigt sich mit Polo-Shirt und Laptop im Wohnzimmer seiner Lebensgefährtin Anke Stadler und wettert in Wort und Bild gegen die schwarz-gelbe Regierungspolitik. Das Internet-Netzwerk Facebook und der virtuelle Nachrichtenkanal Twitter sind zur Bühne des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel geworden. Sogar Privates gibt der 52-jährige Sozialdemokrat und Jungvater preis, der sich offiziell seit April in Elternzeit befindet. "Mariechen ist abgefüttert, der Kaffee ist da, also kann's losgehen", schrieb Gabriel neulich bei Twitter, bevor er sich eine Stunde mit Nutzern des Internetdienstes über Politik austauschte.

Sigmar Gabriel auf allen Kanälen. Im Frühjahr hatte der SPD-Vorsitzende angekündigt, sich eine dreimonatige Auszeit von der Politik zu nehmen, um sich ganz um Tochter Marie zu kümmern. Gabriels Lebensgefährtin Anke Stadler (35) ist Zahnärztin in Magdeburg und berufstätig. Gabriel wollte sich deshalb in der politischen Sommerpause stärker um die Tochter kümmern. Aber so ganz politikfrei ist die Zeit dann doch nicht geworden.

In Magdeburg, wo Gabriels Lebensgefährtin wohnt, empfängt der Parteichef Vertraute, Journalisten und Politiker zum Austausch in einem Café an der Elbe. Immer wieder reist Gabriel aber auch zu Pressekonferenzen, besucht Parteifreunde in benachbarten Bundesländern oder reist für Wahlkampfauftritte und Interviews quer durch die Republik. Und wenn Gabriel zu Hause in Magdeburg ist und die inzwischen fast vier Monate alte Tochter schläft, so berichten es Vertraute, schreibt er eifrig Strategiepapiere für die SPD.

Die Parteifreunde wundern sich bereits über die Fülle an Positionen, Thesen und Ideen, die aus dem fernen Magdeburg herüber in die Berliner Republik schwappen. In Anlehnung an das Buch von Sigmar Gabriel, "Links neu denken", witzelte ein Mitglied der SPD-Bundestagsfraktion unlängst: "Eine Neuauflage müsste eigentlich ,Links jeden Tag neu denken' heißen."

Während die SPD-Frauen sich besorgt fragen, ob Gabriel überhaupt noch Zeit für seine Tochter findet und das "Leitbild einer partnerschaftlichen Familie" vorleben kann, rätseln die Machtpolitiker in der Bundestagsfraktion, ob sich ihr Parteichef für die Kanzlerkandidatur in Stellung bringt. Gabriels Grundsatzpapier zur Bankenregulierung war vor einigen Monaten fast inhaltsgleich von Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier formuliert worden, doch haben Gabriels zugespitze Rhetorik und das gelungene Timing in der Sommerpause dem Thema erst mediale Aufmerksamkeit verschafft.

Mit dem Aufruf zu einer Volksabstimmung über eine neue europäische Verfassung hat sich der Parteivorsitzende nun erneut als Antreiber und Wegbereiter einer grundsätzlichen europapolitischen Debatte in der Sozialdemokratie in Szene gesetzt. Dass Gabriel die bekannten Professoren Jürgen Habermas, Peter Bofinger und Julian Nida-Rümelin für eine Ideensammlung zur Zukunft Europas im Vorfeld der Beratungen für das SPD-Wahlprogramm gewinnen konnte, wird ihm in der Partei hoch angerechnet. Die Intellektuellen an der Seite der Genossen, das hat es früher schon oft gegeben.

So holt sich der SPD-Chef, dem ein Hang zur Unausgegorenheit und Sprunghaftigkeit nachgesagt wird, Autorität von außen in die Partei — auch wenn der Aufzug der Professoren wenig wirklich Neues in der Debatte brachte. Doch das Bild von Gabriel in Habermas' Garten im bayerischen Starnberg dürfte vor allem dem SPD-Chef genutzt haben. "Einer muss ja Themen setzen und was losmachen", begründet einer von Gabriels Leuten die Offensive des Vorsitzenden mit einem Seitenhieb auf die derzeit eher stillen Konkurrenten in der SPD-Troika, Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier und Ex-Finanzminister Peer Steinbrück. Und dass Sigmar Gabriel ernsthaft eine politikfreie Zeit einlegen würde, habe man sich in seinem Umfeld ohnehin nie vorstellen können.

Im parteiinternen Kampf um die Kanzlerkandidatur hat Gabriel somit nachgelegt. Als Parteivorsitzender hat er das Erstzugriffsrecht. Wenn er will, kann er sich selbst nominieren. Doch im Ansehen der Bevölkerung und laut Umfragen in der SPD liegen Steinmeier und Steinbrück, genannt "Stones", weiter vorn. Der "Spiegel" berichtete in seiner jüngsten Ausgabe über wachsenden Zuspruch für Steinmeier. Vielleicht ist Gabriel auch deswegen derzeit so aktiv, weil er seine Felle in der K-Frage davonschwimmen sieht.

Dass der Parteichef in einem Interview einer gemeinschaftlichen Haftung in Europa so leichtfertig das Wort redete, wird in der Partei zumindest nicht vorbehaltlos mitgetragen. Dass Deutschland die Schulden südeuropäischer Krisenländer übernehmen müsse, um den Euro zu retten, ist für das Facharbeiter-Milieu in der Sozialdemokratie keine einfache Botschaft. In der Europapolitik könnte es noch zum Streit zwischen den wirtschaftsfreundlichen Pragmatikern Steinmeier und Steinbrück sowie Gabriel kommen.

Zunächst steht für Gabriel aber wieder Privatleben auf dem Programm. Am 18. August heiratet der Parteichef Anke Stadler in seiner Heimatstadt Goslar. Nur wenige Parteifreunde sind eingeladen. Die "Stones", so heißt es, stehen jedenfalls nicht auf der Gästeliste.

(brö)
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