USA: Schlangestehen vorm Ärzte-Zelt

In den Appalachen, dem Armenhaus Amerikas, warten die Patienten schon im Morgengrauen, um sich von reisenden Medizinern die Zähne ziehen oder Brillengläser austauschen zu lassen. Trotz Gesundheitsreform hat sich am medizinischen Notstand in den Vereinigten Staaten nichts geändert.

Hurricane (Virginia) In khakifarbener Uniform, die Ärmel bis zu den Oberarmen hochgekrempelt, steht Stan Brock auf einem Stuhl und schreit Fragen ins Dunkel. "Wer von euch braucht Zahnbehandlung?" Fast alle Hände fliegen nach oben, später sagt Brock, dass er 782 Wartenummern vergeben hat. "Wer von euch kommt wegen der Augen?" 639 Mal Brille, wird er irgendwann notieren. Sie hat etwas Gespenstisches, die Szene in Hurricane um fünf Uhr am Morgen.

Ringsum liegen die Wälder Virginias in tiefstem Dunkel. Bei der Anfahrt glaubt man, sich verirrt zu haben, so abgelegen ist das Gelände der County Fair, wo sonst an ein paar Tagen im Sommer die besten Gäule vorgeführt werden und rustikale Country-Bands Bluegrass-Musik spielen.

Urplötzlich, hinter einer Kuppe, erhellen Strahler ein provisorisches Gebirgscamp, als wären Außerirdische in der Einöde gelandet. Die wichtigste Devise ist frühes Aufstehen. Wer sich um vier nicht eingereiht hat in die Warteschlange nachtmüder Menschen, die oft von weither angereist sind, kommt heute wohl nicht mehr dran.

Es ist ein ganz normaler Tag im Leben von Stan Brock. Mit Rural Area Medical, RAM, einer Freiwilligenorganisation von Medizinern, tourt er quer durch Amerika, nach Kalifornien, nach Texas, in die Indianerreservate South Dakotas. Für drei Tage macht er in Hurricane Station, mitten im "Coal Country" der Appalachen, das trotz seiner reichen Kohleflöze immer ein Armenhaus geblieben ist.

Eine Zeltplane überdacht 96 Zahnarztstühle, komplett mit Bohrern, Absauggeräten und schlanken, schwarzen Halogenstrahlern. Im zweitgrößten Zelt haben sie ein Optikerlabor eingerichtet, um alte Brillengläser, gesprungene oder zu schwache, gegen neue zu ersetzen.

Der Mann mit dem durchgedrückten Kreuz macht das seit 20 Jahren. Als er anfing, hieß der Präsident im Weißen Haus noch George Bush. 2010 setzte Präsident Barack Obama die Pflicht zur Krankenversicherung durch; 2014 treten alle Regeln der Novelle in Kraft. Für Brock hat sich bisher nichts geändert, trotz der Reform, und er glaubt auch nicht, dass Amerika in Zukunft ohne Nothelfer wie ihn auskommen wird. Schon wegen der Praxisgebühr, die bei jedem Arztbesuch in den USA fällig wird, in aller Regel 30 Dollar (rund 23 Euro), "verdammt viel Geld".

Und wer bei größeren Zahnarztsachen nicht tief in die Tasche greifen will, muss weiterhin eine teure Extraversicherung abschließen. Unbezahlbarer Luxus im Malochermilieu der Hillbillys, wie die Bewohner der Appalachen im Rest der USA gern genannt werden, verspottet werden als vermeintliche Hinterwäldler. "Wir kommen noch lange", prophezeit Brock mit dem Stoizismus eines Welterfahrenen, der das Leben oft genug von seiner Schattenseite kennengelernt hat.

Margaret Maloney fehlen unten schon sämtliche Zähne, oben hat sie noch elf, die meisten zu grauen Stummeln verfärbt. "Müssen alle raus", sagt Margaret und erzählt von andauernden Schmerzen. Und dann? "Dann ess' ich eben nur noch Suppe", witzelt die Imbissköchin und lacht ein rauchiges Lachen. Gewinnt sie eines der Glückslose der RAM-Lotterie, bekommt sie in sechs Monaten ein künstliches Gebiss. Wenn nicht, klappt es vielleicht im nächsten Sommer. Hauptsache, die Schmerzen verschwinden.

Einen Zahn in einer Praxis ziehen zu lassen, macht 180 Dollar. Margaret hat das Geld nicht. Thomas Cooke und Wallace Huff prüfen noch schnell die provisorisch verlegten Elektrokabel, bevor ihre Zwölf-Stunden-Schicht beginnt. Beide nehmen keinen Cent für ihren Einsatz, und als Huff schwärmt, "dies sind die besten drei Tage meines Jahres", kann Cooke nur zustimmend nicken: "Du hattest Erfolg und gibst etwas zurück, ein schönes Gefühl."

Kopfschüttelnd schimpfen die Dentisten auf Mountain Dew, den Bergtau, eine Billiglimonade, die im Laden weniger kostet als Mineralwasser. Das süße Zeug kann die Zähne zu Kariesruinen degradieren. Ironischerweise zählt der Hersteller von Mountain Dew zu den größten Sponsoren des Medizinercamps – Huff erzählt es im Flüsterton, als ginge es um ein Staatsgeheimnis.

Die Dialoge, die Huff mit seinen Patienten führt, grenzen aus seiner Sicht bisweilen ans Absurde. "Als Arzt rät man ja immer dazu, die eigenen Zähne zu retten. Hier hörst du ständig: Herr Doktor, das ist mir zu teuer, bitte ziehen Sie die Dinger."

(RP)
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