Seit dem 11. September 2001 US-Muslime fühlen sich beobachtet

New York · In Amerika sind Muslime oft besser integriert als in Europa. Trotzdem denken viele seit dem 11. September, sie stünden unter Generalverdacht. Frauen wie Linda Sarsour versuchen, diesem Gefühl entgegenzuwirken.

Manchmal könne es nerven, sagt Linda Sarsour. Ständig soll sie Stellung beziehen. Kurz nach den Pariser Terrorattacken diskutierte sie bei Sky News, einem britischen Sender. Sie war so etwas wie die Sprecherin der Muslime. Allein gegen drei männliche Debattenteilnehmer, die alle versuchten, sie in eine Ecke zu drängen. "Komm schon, Linda", sagte einer in einem Tonfall, als wolle sie etwas verbergen: "Du wirst uns hier nicht erzählen, dass es sich bloß um ein paar böse Terrorbuben handelt." Dann fragte er, was sie denn nun zu tun gedenke, damit die muslimische Gemeinde weltweit ihrer Verantwortung gerecht werde. "Als müsste ich meinen Kopf für alles hinhalten", sagt die 34-Jährige.

Linda Sarsour ist New Yorkerin, geboren in Brooklyn. Die Tochter palästinensischer Einwanderer sitzt in einem bunt bestickten Kleid hinterm Laptop, als wollte sie für einen Folklore-Kalender fotografiert werden. Sie tat das aber nur, weil sie nachher zu einer Feier geht. Normalerweise trägt sie enge Jeans, was einen interessanten Kontrast bildet zu ihrem Hidschab, dem Kopftuch, das bis auf die Schultern fällt. Eine Frau mit Hidschab, die sich zu artikulieren weiß, noch dazu im Englisch New Yorks - bei manchem bringe so etwas das Weltbild durcheinander, beobachtet sie. Einmal bekam sie eine E-Mail, in der stand, dass es peinlich sei, jemanden von solcher Intelligenz mit diesem "Symbol der Frauenfeindlichkeit" um die Haare zu sehen. Sie muss lachen, wenn sie davon erzählt.

Sarsour leitet die Arab American Association, eine Organisation, die Migranten aus der arabischen Welt hilft, sich im neuen Leben zurechtzufinden. Ein paar Schritte weiter, im Supermarkt Balady, stapelt sich süßes Dattelgebäck. Ein China-Restaurant wirbt damit, dass es "halal" kocht, Mahlzeiten ohne Schweinefleisch. Wäre nicht gleich um die Ecke die U-Bahn, könnte man denken, man sei in Amman oder Ramallah. Knapp 50 000 Menschen mit arabischen Wurzeln leben in Bay Ridge, im Südwesten Brooklyns, nicht weit vom Atlantik. Von einem Armutsghetto kann keine Rede sein, was nur bestätigt, wie Statistiker die Lage sehen.

Denn nach einer Studie des Washingtoner Pew-Instituts kommen 14 Prozent der muslimischen Haushalte auf ein Jahreseinkommen von mehr als 100 000 Dollar (rund 88 500 Euro), was ungefähr dem US-Durchschnitt entspricht. Muslime mit Wurzeln in 77 Ländern leben in den Vereinigten Staaten. Anders als in Frankreich oder Großbritannien gibt es keine dominierende Gruppe, etwa aus Algerien, Marokko oder Pakistan, was das Leben in Parallelwelten erschwert und die Integration erleichtert. "Die amerikanische Gesellschaft ist offener, sie lässt einen leichter dazugehören", sagt der Computeringenieur Mazen Mukhtar, geboren in der ägyptischen Mittelmeermetropole Alexandria. Heute ist er Direktor der Muslim American Society. Während das Kopftuchtragen an französischen Schulen verboten ist, sei es an amerikanischen nicht nur erlaubt, sondern gesetzlich geschützt, betont er.

Für viele ihrer Glaubensgenossen laufe es gut, sagt Sarsour. Aber das ändere nichts daran, dass man sich fühle, als stehe man unter Dauerbeobachtung. An die Wand ihres fensterlosen Büros hat sie die Karikatur eines Polizisten gepinnt, vor den Augen ein Fernglas, das fast das gesamte Gesicht bedeckt. Ganz nach dem Motto: Big Brother beim Spionieren.

Nach den Anschlägen des 11. September arbeiteten die New Yorker Polizei und die CIA im Stillen zusammen, um arabisch-muslimische Gemeinden zu belauschen. Die Kooperation war verfassungswidrig, denn amerikanische Bürger darf die CIA nicht überwachen. Eine Sondereinheit rekrutierte Spitzel, "Crawlers" ("Kriecher"), wie man sie in Bay Ridge nennt. In Moscheen und Cafés, Buchläden und Bars sollten sie Informationen sammeln. Als das Geheimprogramm 2011 publik wurde, kühlte sich Sarsours Verhältnis zu Ray Kelly, dem damaligen Polizeichef der Stadt, auf Eisschranktemperatur ab. Dabei hatte sie einmal sogar ein Spruchband bemalt, um ihn in ihrem Gotteshaus feierlich willkommen zu heißen. "Wir öffnen Ihnen die Vordertür, aber Sie haben sich durch die Hintertür längst Zugang verschafft", beschreibt sie ihre Gefühle. "Ich fühlte mich persönlich verraten."

Mit Bill Bratton, Kellys Nachfolger, hat sich Sarsour im Laufe eines Jahres schon viermal getroffen. Ob das Bespitzeln aufgehört habe, wisse sie nicht. Aber es sei ein neuer Anfang.

(RP)
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