Analyse Urteil setzt Kirchen unter Druck

Düsseldorf · Das Bundesarbeitsgericht hat im November den Gewerkschaften unter Auflagen ein Streikrecht bei den Kirchen zugestanden. Jetzt kommt aus Erfurt die nächste brisante Entscheidung – darüber, was überhaupt Kirche ist.

Bei der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe (Diakonie RWL) dürfte die Urteilsbegründung aus Erfurt eingeschlagen haben wie eine Bombe: Hatte sich der Verein, der als Verwaltungsorganisation mit 230 Mitarbeitern die drei Landeskirchen berät, bislang wie selbstverständlich als kirchliche Einrichtung betrachtet, hat er nun vom Bundesarbeitsgericht (BAG) schwarz auf weiß das Gegenteil bescheinigt bekommen. Der Satzung sei nicht zu entnehmen, dass der Verein die Aufgabe habe, "ein Stück des Auftrags der Kirche wahrzunehmen und zu erfüllen", schreiben die Richter. Im Klartext: Weil der Verein eine Unternehmensberatung und keine karitative Einrichtung sei, zähle er nicht zur Kirche.

Die Entscheidung ist das Nebenprodukt eines Urteils (Az.: BAG 1 AZR 179/11), bei dem es eigentlich um das Streikrecht bei kirchlichen Arbeitgebern ging. Die Diakonie RWL hatte sich an dieser Sammelklage gegen die Gewerkschaft Verdi beteiligt, die 2009 aus Sicht der Arbeitgeber zu Unrecht zu Warnstreiks in kirchlichen Einrichtungen in Ostwestfalen aufgerufen hatte. Dass in diesem Zuge über die Zugehörigkeit des Vereins zur Kirche entschieden würde, damit hatte man in Düsseldorf wohl kaum gerechnet.

Das Urteil könnte massive Folgen haben. Denn die Frage nach der Zugehörigkeit entscheidet unter anderem darüber, wie in den Unternehmen die Löhne gefunden werden. In einer Regelung noch aus Zeiten der Weimarer Republik, die bei Gründung der Bundesrepublik in Artikel 140 des Grundgesetzes übernommen wurde, heißt es: "Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig." Dieses Selbstbestimmungsrecht erlaubt den Kirchen einen Sonderweg bei der Lohnfindung, den sogenannten Dritten Weg: Während in der freien Wirtschaft Gewerkschaften und Arbeitgeber über Löhne verhandeln, die Arbeitnehmer dabei Druck mit Streiks machen können, entscheiden bei den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Caritas und Diakonie besondere Gremien über die Löhne. Besetzt sind diese "Arbeitsrechtlichen Kommissionen" zu gleichen Teilen mit Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern. Die Arbeitnehmervertreter werden dabei nicht von Gewerkschaften entsandt, sondern meist von den Mitarbeitern gewählt. Streiks und Aussperrungen sind in diesem System nicht erlaubt. Im Streitfall ist eine Schlichtung verpflichtend. Begründet wird dieser konsensuale Sonderweg mit dem Auftrag zur Verkündigung der Botschaft Jesu Christi und dem Dienst am Nächsten, der nicht durch Streiks unterbrochen werden dürfe.

Für die Diakonie RWL kommt dieser Weg künftig wohl nicht mehr infrage: "Wenn man das Urteil aus Erfurt ernst nimmt, ist der Verein nicht länger vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht erfasst. Denn dieses gilt nach Ansicht des BAG nur für denjenigen, der Nächstenliebe ausübt", sagt der Arbeitsrechtsprofessor der Ruhr-Uni Bochum, Jacob Joussen. Unstrittig sei dies etwa bei christlichen Krankenhäusern oder Pflegediensten. "Die Gewerkschaft Verdi könnte nun – einen entsprechenden Organisationsgrad vorausgesetzt – die Diakonie RWL zu Tarifverhandlungen auffordern und auch bestreiken."

Eine Situation, die auch anderen Unternehmen blühen könnte: "Es gibt eine Reihe von Spitzenverbänden mit ähnlich gelagerter Situation – etwa Arbeitnehmerverbände wie die Arbeitsgemeinschaft caritativer Unternehmen oder der Verband diakonischer Dienstgeber", sagt Joussen. Auch bei diesen handele es sich um beratende Unternehmen, so dass auch für sie das BAG-Urteil Auswirkungen haben könnte. Fraglich sei auch, ob der Evangelische Pressedienst dem kirchlichen Auftrag gerecht werde, wobei dieser mit der Wortverkündigung argumentieren könnte, sagt Joussen.

In jedem Fall ist die Entscheidung für Verdi eine weitere Möglichkeit, Streiks bei den Kirchen voranzutreiben. Noch sei man damit beschäftigt, das Urteil auszuwerten, hieß es gestern beim Verdi-Bundesvorstand. Doch dass es den Mitgliedern nicht an Entschlossenheit mangelt, dafür spricht das Teilnehmer-Protokoll der Konferenz "Streikrecht in kirchlichen Betrieben" in Göttingen Anfang Dezember 2012, das unserer Zeitung vorliegt. Es ist eine klare Kampfansage an die kirchlichen Arbeitgeber: Von einem engen Zeitfenster von zwei Jahren ist dort die Rede, das Verdi nutzen wolle, um mithilfe von Streiks Tarifverträge bei den kirchlichen Arbeitgebern durchzusetzen.

Keine angenehmen Aussichten für die Diakonie RWL, die sich dennoch gelassen gibt: Man mache sich keine Sorgen, dass Verdi Tarifverträge einfordern und per Streik durchsetzen werde, sagte ein Sprecher mit Verweis auf die gerade einmal 230 Mitarbeiter. Die Begründung des BAG nannte er "nicht stringent und nicht zutreffend". Das Gericht verstehe die Satzung falsch und verkenne die Aufgabenwahrnehmung des Vereins.

Arbeitsrechtler Joussen hält die Entscheidung der Erfurter Richter zur Diakonie RWL für falsch: "Es handelt sich klar um eine Einmischung in die Organisationshoheit der Kirche." Und die sei weltlichen Richtern laut Verfassungsgericht untersagt. Ob die Diakonie RWL den Gang nach Karlsruhe antritt, ist offen. Dem Sprecher zufolge bleibt eine Entscheidung über rechtliche Schritte "noch einer abschließenden Bewertung der Gremien vorbehalten".

Mit Spannung erwarten die Beteiligten nun den 25. April. Dann wird das BAG einen ähnlichen Fall behandeln – nämlich die Frage, ob es sich bei der evangelischen Zusatzversorgungskasse weiterhin um eine kirchliche Einrichtung handelt. "Nach der Formulierung in dem jüngsten Urteil zur Diakonie RWL habe ich die ungute Vorahnung, dass das Gericht zu einer anderen Auffassung kommt", sagt Joussen.

(RP)
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