Analyse Unsere liebsten Nachbarn

Düsseldorf · Das Verhältnis Nordrhein-Westfalens zu den Niederlanden gilt als vorbildlich. Mit keinem anderen Staat besteht eine solch enge Zusammenarbeit – sei es in der Wirtschaft, beim Tourismus oder der Kriminalitätsbekämpfung.

Nordrhein-Westfalen und die Niederlande – das ist ein Kapitel bester Nachbarschaft, die aber auch gepflegt sein will. Vor einem Jahr war NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) zu Gast in Den Haag. Gestern stattete der niederländische Regierungschef Mark Rutte, der der rechtsliberalen Partei VVD angehört, Nordrhein-Westfalen einen eintägigen Staatsbesuch ab. Dieser diene der Vertiefung der politischen und persönlichen Kontakte zwischen den Niederlanden und Nordrhein-Westfalen, heißt es ganz allgemein in einer Erklärung der Düsseldorfer Staatskanzlei.

Hannelore Kraft empfing ihren Gast in Essen, wo ein Besuch der Zeche Zollverein sowie ein Besuch mehrerer Forschungseinrichtungen auf dem Programm standen. Man habe sich über die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen beider Länder unterhalten, hieß es. Wie unter guten Bekannten.

Eng sind die Verbindungen auch auf anderen Gebieten – etwa bei der Kriminalitätsbekämpfung, im Tourismus oder im grenzüberschreitenden Verkehr. Vielleicht kam deshalb bei dem gestrigen Gespräch Kraft-Rutte auch das heikle Thema Autobahn-Maut zur Sprache. Die CSU, die mit Alexander Dobrindt den Bundesverkehrsminister stellt, will eine Autobahngebühr einführen, die jedoch nicht die deutschen Autofahrer belasten soll. Nicht nur bei der SPD stößt das Vorhaben auf Ablehnung. Auch CDU-Landeschef Armin Laschet ist mehr als skeptisch. Er wisse nicht, wie eine Lösung aussehen könnte, die mit europäischem Recht vereinbar sei, sagte Laschet – auch mit Blick auf die niederländischen Nachbarn. NRW wäre von einer Maut – sollte sie denn kommen – ganz besonders betroffen. Denn die Niederländer, so fürchtet Laschet, würden eine Autobahngebühr nicht widerspruchslos hinnehmen, sondern ihrerseits umgehend eine Maut erheben. Das Nachsehen hätten die vielen Besucher aus NRW, die mal eben über die Grenze nach Holland fahren, um etwa die Öffnungszeiten niederländischer Geschäfte und Einkaufszentren an Sonn- und Feiertagen zu nutzen. Viele suchen auch für ein Wochenende oder länger Entspannung an der See. Umgekehrt zieht es viele Niederländer zum Düsseldorfer Weihnachtsmarkt, in die Neusser Skihallen oder ins winterliche Sauerland.

Noch ein anderes Verkehrsthema berührt beide Seiten: das Schienenprojekt "Eiserner Rhein". Die Wiederbelebung dieser historischen Verbindung vom Ruhrgebiet nach Antwerpen (Belgien) durch ein niederländisches Naturschutzgebiet stand schon auf der Agenda des damaligen NRW-Regierungschefs Wolfgang Clement (1998–2002), der mehrfach in Den Haag vorstellig wurde. Trotz mehrerer Anläufe ist noch kein Durchbruch erzielt worden.

Trübten früher mitunter beiderseitige Vorurteile und Klischees das Verhältnis von Niederländern und Deutschen, so ist die Situation inzwischen deutlich entspannter. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie des Historikers Jacob Pekelder (Utrecht), die im November in der Düsseldorfer Staatskanzlei vorgestellt wurde. Demnach hat sich die Einstellung der Niederländer in den vergangenen 20 Jahren deutlich gewandelt und ist viel positiver geworden. Deutschland gelte nicht mehr als kriegslüstern, sondern als weltoffen und demokratisch.

"Mit keinem anderen Staat", so formulierte es gestern auch Hannelore Kraft, bestehe eine vergleichbar enge Zusammenarbeit wie mit den Niederlanden: "Wir sind wahrlich gute Nachbarn geworden. Wir haben unsere Lehre aus der Geschichte gezogen."

Geradezu herausragend sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden. Waren für mehr als 40 Milliarden Euro tauschen die beiden Länder jährlich aus, die Dienstleistungen nicht mitgerechnet. Damit sind die Niederlande der wichtigste Handelspartner Nordrhein-Westfalens und der größte ausländische Investor dort. 3100 niederländische Unternehmen mit 95 000 Arbeitsplätzen bedienen von NRW aus den deutschen Markt.

Über 40 Prozent der rund 155 000 Niederländer in Deutschland leben zwischen Rhein und Weser, mehr als 10 000 Menschen pendeln täglich von NRW über die Grenze. Zudem sind 25 000 deutsche Studenten an niederländischen Hochschulen eingeschrieben – weitaus die meisten aus dem größten deutschen Bundesland.

Mit ein Grund für die engen Beziehungen ist die Lage der beiden Länder. Von beiden Wirtschaftsräumen erreicht man mit einer Lkw-Tagesfahrt rund ein Drittel aller europäischen Konsumenten, die 45 Prozent der gesamten Kaufkraft des Kontinents stellen. Kaum ein Gebiet in Europa ist so dicht besiedelt wie die Niederlande und NRW. Dafür stehen besonders die beiden Wirtschaftsmetropolen Randstad (Amsterdam, Rotterdam, Den Haag) und Rhein-Ruhr (Köln, Düsseldorf, Ruhrgebiet), die zu den fünf größten Standorten in Europa zählen.

Es sind vor allem die mittelständischen Unternehmen, die das Geschehen auf beiden Seiten prägen. Aber auch große Konzerne wie die Lebensmittelriesen Unilever (in Kleve) und Friesland Campina (in Köln), die Dienstleister ING Diba (Bank) und Randstad (Leiharbeit) oder die Großunternehmen Akzo Nobel (Chemie) und Philips (Elektronik) sind in NRW engagiert. Auch das gemeinsame deutsch-holländische Gewerbegebiet Avantis bei Aachen gewinnt ständig Firmen.

Ganz unumstritten ist die enge Beziehung freilich nicht. Schon machen sich manche Niederländer Sorgen, ob sie nicht andere, wachstumsstärkere Regionen in Deutschland vernachlässigten. "Schaut mehr auf den Süden", hieß es erst unlängst in einer kritischen Wirtschaftsstudie des Amsterdamer Bankriesen ING.

(RP)
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