Bilanz als Wahlkampfmittel Koalition ringt um Halbzeit

Berlin · Union und SPD haben im Koalitionsvertrag eine Zwischenbilanz vorgesehen. Doch der Umgang damit wird zum Taktikspiel.

 Wie einig sind sich die Schwarzen und die Roten in ihrer großen Koalition noch? Selbst um den Zeitpunkt für die Zwischenbilanz wird gestritten.

Wie einig sind sich die Schwarzen und die Roten in ihrer großen Koalition noch? Selbst um den Zeitpunkt für die Zwischenbilanz wird gestritten.

Foto: dpa/Stefan Sauer

Halbzeit ist, wenn der Schiedsrichter pfeift. Das gilt aber nicht für die große Koalition: Die Halbzeit ist für Union und SPD eine Frage der Definition und einen Schiedsrichter gibt es bekanntlich auch nicht. Daher hat jetzt schon ein Tauziehen hinter den Kulissen begonnen, wann Union und SPD ihre im Koalitionsvertrag festgelegte Zwischenbilanz ziehen und sich die Frage stellen, ob das Glas eigentlich halb voll oder doch schon halb leer ist? In der Union ist die Neigung vorhanden, dies im Sommer zu erledigen. Die SPD steht eher auf dem Standpunkt, dass frühestens im September und sowieso nach den langen Koalitionsverhandlungen eher im Herbst die Zwischenbilanz fällig ist.

Erstmals hatten Union und SPD im Koalitionsvertag vereinbart, nach der Hälfte ihrer Regierungszeit die eigene Arbeit zu überprüfen. Schriftlich hielten sie fest: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Die SPD hatte seinerzeit darauf bestanden, dass diese Klausel Eingang findet in den Koalitionsvertrag. Sie war als Beruhigungspille für die zahlreichen Gegner der großen Koalition in den eigenen Reihen gedacht. Dementsprechend gilt die Klausel als Sollbruchstelle der Regierung. Eigentlich gehört die Selbstüberprüfung und auch die Anpassung einer Koalitionsvereinbarung an die politischen Umstände zum Routinegeschäft einer Regierung. Die Vorbehalte gegen das Bündnis mit der Union waren in der SPD aber so groß, dass man sich noch nicht einmal mehr das kleine Einmaleins der Politik zutraute.

Seitdem die SPD die Klausel in den Vertrag hineinverhandelt hat, kann sie als die Treiberin in der Koalition auftreten und mit der unterschwelligen Drohung, dass die Koalition nicht zwingend bis 2021 halten muss, Druck auf die Union ausüben. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer hat diesen strategischen Vorteil der SPD bereits ein wenig ausgebremst. Bei verschlechterter Wirtschaftslage könne man „schon im Sommer andere Antworten benötigen“, sagte Kramp-Karrenbauer im März. Mit Blick auf die sich eintrübende Konjunktur und die Haushaltslage werde es dabei auch um die Frage gehen, ob der Koalitionsvertrag darauf die richtigen Antworten gebe.

Öffentlich will nun niemand den Streit eskalieren. Eine Entscheidung, wann man die Halbzeitbilanz ansetzt und in welcher Form die Überprüfung stattfindet, soll dem Vernehmen nach erst nach der Europawahl und der Bürgerschaftswahl in Bremen am 26. Mai fallen. Je nach Ausgang könnte es bei Union und SPD den Wunsch geben, auch in Berlin schnell und klar Signale für eine Kurskorrektur zu setzen.

Es wird dann auch um die Frage gehen, wie sich die beiden Parteien für die im Herbst folgenden Landtagswahlen im Osten aufstellen – mit neuer Einigkeit nach einer harmonischen Zwischenbilanz oder in scharfer Konkurrenz mit strittigen Inhalten. Die Sozialdemokraten wären mit ihrem neuen Kurs, der auf eine Ausweitung des Sozialstaats setzt, dafür gut gerüstet. Unter anderem könnte die SPD den Streit um die Grundrente auch in den Wahlkampf im Osten tragen. Eben dies fürchtet die Union und würde  daher gerne unter Verweis auf die schlechte konjunkturelle Lage weiteren sozialpolitischen Ausgaben eine Absage erteilen.

Bei der SPD behält man den Faustpfand und hat noch keine Lust, über die Klausel, deren Auslegung und ein möglicherweise vorgezogenes Ende der großen Koalition zu reden. Wer jetzt das Bündnis in Abrede stellt oder gar platzen lässt, vergrault damit viele Wähler, lautet die Devise. Gefragt nach dem Zeitpunkt für die Zwischenbilanz, sagte SPD-Chefin Andrea Nahles am Montag nur: „Die Mitte der Legislaturperiode ist Mitte der Legislaturperiode. Und die haben wir noch nicht erreicht.“ Ob das dann ein Anlass sei, über die Fortsetzung der Koalition oder lediglich die inhaltliche Anpassung des Koalitionsvertrags zu reden, ließ Nahles offen. „Es ist das, was es ist. Wir haben gemeinsam verabredet, dass wir  eine Zwischenbilanz ziehen, und das werden wir dann auch tun“, sagte die SPD-Chefin.

Nahles sitzt in der Klemme. Sie muss jenen Kräften in der Partei Raum lassen, die das Bündnis mit der Union von Anfang an kritisch sahen und am liebsten ein zweites Mal die Mitglieder über den Fortbestand der großen Koalition abstimmen lassen würden. Das ist im Rahmen der Zwischenbilanz jedoch nicht geplant. Daher muss sie die widerstreitenden Kräfte in ihrer Partei austarieren. Die Abgeordneten und die Regierungsmitglieder möchten angesichts der schlechten Umfragewerte das Bündnis gerne fortsetzen. Viele Funktionäre aus den Ländern hingegen sähen die Regierung in Berlin gerne platzen.

Beim Bundesparteitag Ende des Jahres könnte es zum Schwur kommen, wenn die Delegierten nicht nur ihren angestauten Ärger über Nahles ausschütten, sondern auch ein Votum für oder gegen die große Koalition erzwingen. Nahles ihrerseits muss den Eindruck zerstreuen, als sei sie nicht Herrin des Verfahrens. Auch deshalb spricht aus ihrer Sicht ein eher später Zeitpunkt für die Zwischenbilanz.

(jd/qua)
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