Innenpolitik Die Selbstradikalisierung der CSU

Berlin · Ein Jahr scharfe Dauerkritik der Seehofer-CSU am Kurs der Kanzlerin ist auch an den Christsozialen selbst nicht vorbeigegangen. Sie beschränkt ihren eigenen Handlungsspielraum, das führt letztlich zum Risiko des Zerfalls.

Horst Seehofer – Merkels mächtiger Gegenspieler im Foto-Porträt
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Horst Seehofer - Merkels mächtiger Gegenspieler

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Foto: dpa/Sven Hoppe

"Das war ein Fehler, der uns noch lange beschäftigen wird", sagte CSU-Chef und Bayern-Ministerpräsident Horst Seehofer im September 2015 nach der Einreise von 20.000 Flüchtlingen aus Ungarn an einem einzigen Wochenende. Wenige Tage später legte er nach mit der Feststellung, es herrsche "Ausnahmezustand". Was seinerzeit den aktuellen Bildern und Entwicklungen zugeschrieben werden konnte, blieb mit der Erwartung verbunden, dass Seehofer die Sprache wieder mäßigen würde, wenn denn die Gesetzesmaschine angeworfen und der Zustrom gebremst würde. Eine Fehleinschätzung. Die CSU blieb auf Verbalradikalisierungskurs, unabhängig von der Faktenlage.

Schon am 5. November verständigte sich Seehofer mit den beiden anderen koalitionstragenden Parteichefs auf ein Maßnahmenbündel. In der Unionsfraktion unterstützte die CSU zahlreiche Gesetzesverschärfungen. Und auch die CSU hatte die Statistiken vorliegen, nach denen die Zahl der Zuwanderer massiv zurückging, und trotzdem stellte Seehofer im Februar erneut fest: "Wir haben im Moment keinen Zustand von Recht und Ordnung. Es ist eine Herrschaft des Unrechts."

Kurz zuvor hatte der CSU-Ehrenvorsitzende Edmund Stoiber die Forderung der bayerischen Schwesterpartei an Angela Merkel konkretisiert und mit einem Ultimatum versehen. Die CDU-Vorsitzende habe nun "maximal bis Ende März" Zeit, um ihre Ankündigung umzusetzen, die Zahl der Flüchtlinge zu verringern. Es wurde Ende März, und die Zahl der Flüchtlinge betrug nicht mehr über 200.000 im Monat wie noch im November, sondern unter 20.000. Ab April also Mäßigung und neuer Schulterschluss zwischen CDU und CSU?

Ganz im Gegenteil. Obwohl die CSU die Versöhnungsklausur mit der CDU in Potsdam im Juni mit dem gemeinsamen Beschluss beendete, in sechs "Deutschlandkongressen" alle Themen aufzuarbeiten, obwohl es in der Zwischenzeit eine Fülle weiterer gesetzlicher Korrekturen auf Betreiben und mit Zustimmung der CSU im Bund gegeben hatte, erklärte Seehofer im September erneut: "Die Menschen wollen diese Berliner Politik nicht." Und Finanzminister Markus Söder blieb nach jeder Rechtsänderung bei der Forderung, das Gebot der Stunde sei die Aussage: "Wir ändern das".

Schließlich schreckte Seehofer auch nicht mehr davor zurück, die Todsünde unter Schwesterparteien zu begehen und in der Schlussphase des Wahlkampfs um das Berliner Abgeordnetenhaus den Streit erneut zu verschärfen und eine abermalige Veränderung der Politik zu verlangen.

Ob Seehofer sich von einer zunehmend Merkel-feindlichen Basis getrieben sieht oder ob seine seit einem Jahr anhaltende krachende Grundsatzkritik diese Stimmung erst befördert hat, wird sich wohl nie beantworten lassen. Klar ist, dass sich beides nun bedingt und auch den Handlungsspielraum des CSU-Chefs beeinträchtigt. Da kann ein vom evangelisch-christlichen Flügel kommender CSU-Vize wie Agrarminister Christian Schmidt die Bedeutung der Obergrenze relativieren oder eine Realpolitikerin wie CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt die Obergrenze als Richtgröße interpretieren. Beide werden umgehend in den Senkel gestellt und mit der apodiktischen Seehofer-Formulierung konfrontiert, die Obergrenze müsse kommen, sonst verliere die CSU ihre Glaubwürdigkeit.

Demontage der Kanzlerin

Parallel dazu verläuft eine Demontage der Kanzlerin. Da hält Seehofer die Unterstützung für eine erneute Kanzlerkandidatur genauso zurück wie sein Generalsekretär Andreas Scheuer die Einladung an Merkel zum CSU-Parteitag. Beides befördert erneut Szenarien innerhalb der CSU-Landtagsfraktion, wonach alles besser wäre ohne Merkel. Dröhnend berichten Abgeordnete von Forderungen aus CSU-Ortsvereinen, bloß auf Merkel zu verzichten. Sie würden jedenfalls keine Merkel-Plakate aufhängen, eher abreißen, und schon gar keine Partei wählen, die Merkel unterstütze.

Durch seinen Kurs lässt Seehofer auch Alternativszenarien zu, die auf der Grundlage eines Bayern-zentrierten Weltbildes entstehen. Unter tatkräftiger Mithilfe der CSU vergeigt die CDU mit oder ohne Merkel die Bundestagswahl, es kommt zu Rot-Rot-Grün, was einen solchen Schock auslöst, dass die Menschen 2018 in Scharen die CSU bei den Landtagswahlen unterstützen.

Merkel stürzen - wer Seehofers Elefantengedächtnis erlebt, seine nachhaltigen Kränkungen, wer ihn dann vor der Fernsehkamera mit seiner Eisenbahn im Keller spielen sieht und beobachtet, wie er aus Verärgerung über die Kanzlerin die Merkel-Figur aus dem Spiel nimmt und auf die Fensterbank verbannt, der mag in Rachegelüsten liegende Motivationen nicht ausschließen. Doch bei Seehofer geht es vor allem um das Erbe des CSU-Idols Franz Josef Strauß und dessen Vermächtnis, niemals eine demokratisch legitimierte Partei rechts der CSU zuzulassen. Das lässt ihn wie in Rilkes Panther-Gedicht ruhelos an tausend Stäben in Form von Umfragen vorbeistreifen, mit müde gewordenem Blick um eine von Fakten unabhängige Stelle tanzen, "in der betäubt ein großer Wille steht".

Nur: Wohin mit diesem großen Willen? Es wird berichtet, Seehofer frage Freunde, Bekannte und sich selbst immer wieder, was Strauß heute tun würde. Der wusste mit radikalisierter Rhetorik in Bierkellern alle Gelüste rechts der CSU zu ertränken. Heute jedoch bestätigt Seehofer mit eben dieser faktenvergessenen Sprache all jene, die eine Union mit Merkel für Versager halten und rechts davon Alternativen gefunden zu haben glauben. Er stärkt den Widerspruch der Merkel-Zweifler in der CDU und befördert den Frust der Merkel-Versteher in der CSU, betreibt letztlich also eine Vierteilung der Union. Ja, Selbstradikalisierung kann so enden.

(RP)
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