Washington Über Amerikas "blutigen Sonntag" gibt es neuen Streit

Washington · Der Film "Selma" schildert den Kampf schwarzer US-Bürger für das Wahlrecht und sorgt 50 Jahre nach dem Geschehen für Polemik.

Eigentlich, denkt man, ist alles gesagt über Selma, den Marsch, mit dem sich schwarze Amerikaner vor 50 Jahren ihr Wahlrecht auch in der Praxis erkämpften. Doch mit "Selma", dem Kinofilm, gelingt es der Regisseurin Ava du Vernay, die schreienden Widersprüche jener Zeit so zu bündeln, dass auch Spätgeborene auf Anhieb begreifen, wie grotesk das alles war.

In Oslo, im Dezember 1964, nimmt Martin Luther King den Friedensnobelpreis entgegen, im Ausland gefeiert als zweiter Gandhi, ein Held des zivilen Ungehorsams. In Selma, US-Bundesstaat Alabama, versucht währenddessen eine 55-Jährige namens Annie Lee Cooper, sich ins Wahlregister einzutragen. Verwaltungsschikane versperrt ihr den Weg. Wer dunkle Haut hat und abstimmen möchte, muss einen Test bestehen, einen Wissenstest nach Art des Südens. Als Erstes soll Cooper, im Film gespielt von Oprah Winfrey, die Präambel der amerikanischen Verfassung aufsagen, was ihr mühelos gelingt. Auch auf die Frage, wie viele Bezirksrichter es in Alabama gibt, weiß sie die richtige Antwort: 67. "Zählen Sie die Namen auf", verlangt schließlich der Beamte hinterm Schalter, bevor er selbstzufrieden lächelnd einen Stempel auf Coopers Antrag krachen lässt und ihr den Gang an die Urne aufgrund mangelnder staatsbürgerlicher Grundkenntnisse verweigert. In der Stadt Selma, brachte es der Prediger King seinerzeit auf den Punkt, saßen mehr Schwarze im Gefängnis, als Schwarze zur Wahl zugelassen waren.

Am 7. März 1965 marschieren mehrere Hundert Menschen über die Edmund-Pettus-Bridge, eine Brücke über den schlammbraunen Alabama River, die noch immer den Namen eines Anführers des Ku-Klux-Klan trägt. Ziel ist Montgomery, 80 Kilometer entfernt, die Hauptstadt des Bundesstaates. Am anderen Ufer warten Polizisten, manche zu Pferde, andere mit Holzknüppeln in den Händen. Tränengasgranaten fliegen, berittene State Troopers peitschen auf Fliehende ein, als wären sie Sklaven.

An diesem Bloody Sunday, diesem Blutigen Sonntag, sagt J.L. Chestnut, der erste schwarze Anwalt der Stadt, habe er den Glauben an Amerika verloren. Und ihn erst wiedergefunden, als auch weiße Amerikaner nach Selma kamen, um Solidarität zu üben, bis der dritte Anlauf tatsächlich bis nach Montgomery führte. Das Aufbegehren der Zivilgesellschaft gegen die Anmaßung bornierter Amtsträger, es ist das Thema des Dramas, das schon deshalb für Aufsehen sorgt, weil Hollywood Großaufträge nur selten an Frauen vergibt, noch seltener an Afroamerikanerinnen wie Ava du Vernay.

Dass "Selma" eine überraschend heftige Debatte auslöst, liegt aber vor allem an der Darstellung Lyndon B. Johnsons, des US-Präsidenten, der einerseits den Krieg in Vietnam eskalierte, andererseits daheim Reformen anpackte, weitaus mutiger als sein glorifizierter Vorgänger John F. Kennedy. Auf der Leinwand ist "LBJ" dagegen der große Zauderer, der sich erst bewegt, als ihn die Horrorbilder des Blutigen Sonntags unter Handlungsdruck setzen. Er habe hundert Probleme zu lösen, hatte er entgegnet, als King ihn bedrängte, den überfälligen Voting Rights Act nicht auf die lange Bank zu schieben. Das Wahlrecht im Süden sei nur eines davon, und es sei nicht das dringendste.

Es gibt Historiker, die der Kinoversion energisch widersprechen. Mark Updegrove, Direktor der LBJ-Präsidentenbibliothek, wirft du Vernay vor, "eines der heiligsten Kapitel" der Bürgerrechtsbewegung grob zu verzerren. Johnson habe mit King im selben Boot gesessen; wer daraus eine Kontroverse konstruiere, ignoriere die Fakten. Joseph Califano, damals Berater im Weißen Haus, meint sogar, kein anderer als LBJ habe das Marschieren angeregt. Was die Filmemacherin im Gegenzug von einer "atemberaubenden" Behauptung sprechen lässt, beleidigend für die wahren Organisatoren.

Tatsächlich schwingt etwas Paternalistisches mit in den Äußerungen weißer Zeitzeugen, allein das macht den Diskurs so brisant. Hinzu kommt die Erinnerung an Hillary Clinton, die 2008, in der Hitze des Vorwahlgefechts gegen Barack Obama, vom Traum eines Martin Luther King sprach, der nur deshalb in Erfüllung ging, "weil wir einen Präsidenten hatten, der sagte, wir machen das jetzt". Es war der Versuch, den Rivalen als eine Art Sonntagsredner ohne Durchsetzungsvermögen hinzustellen, und noch immer gibt es Obama-Anhänger, die Clinton den Satz übelnehmen.

Obama selbst legte sich ins Zeug für den Film, der in Deutschland am 19. Februar in die Kinos kommt. Er lud zu einer Privatvorführung ins Weiße Haus. Allerdings verkniff sich der Präsident jeden Kommentar zur Polemik um Hollywoods Umgang mit dem Werk. Zwar wurde es in den Kategorien "Bester Film" und "Bester Song" für den Oscar vorgeschlagen, aber die Regisseurin und der King-Darsteller David Oyelowo gingen leer aus. Für Ava du Vernay hat der Streit etwas Bizarres, typisch Washington, weil er sich um die Manöver der Machtzentrale dreht statt um die Courage der kleinen Leute. "Dies ist kein Film über LBJ. Es ist ein Film über die schwarzen Bewohner von Selma."

(RP)
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