Bilanz Turbo-Abi unter Druck

Düsseldorf · Die Verkürzung der Gymnasialzeit bleibt unbeliebt. Etliche Bundesländer unternehmen weitgehende Versuche zur "Entschärfung". Aus NRW kommen dagegen klare Zeichen: Bloß nicht noch eine große Reform.

Es gab eine Zeit, und die ist noch nicht so lange her, da schien die Bildungspolitik in Deutschland nur ein Motto zu kennen: früher, schneller, jünger. Eher und in weniger Zeit sollten Kinder und Jugendliche ihre Ausbildung durchlaufen. Das betraf den Zeitpunkt der Einschulung (mit vier Jahren schlug Bildungsministerin Annette Schavan vor), das Studium (nur sechs Semester Regelzeit im neuen Studiengang Bachelor) — und das Bildungs-Herzstück, das Gymnasium. Acht statt neun Jahre, "G 8" statt "G 9", hieß die Devise. Der Volksmund machte daraus bald das "Turbo-Abitur".

Die Turbo-Zeiten sind fürs Erste vorbei. Nordrhein-Westfalen hat die Vorverlegung des Einschulungsalters gestoppt. Den hektischen Bachelor halten inzwischen selbst die Hochschulen für gescheitert. Und das "Turbo-Abitur" steht ebenfalls heftig unter Druck.

"Bulimie-Lernen"

Keine Schulreform der vergangenen Jahre hat die Massen so aufgebracht. Erst im Juli ergab eine Umfrage eine deutliche Mehrheit gegen G 8. Schüler protestierten gegen "Bulimie-Lernen", Eltern gegen 40-Stunden-Schulwochen, Jugendverbände konstatierten sinkende Bereitschaft zum Engagement. Jüngst wuchs das Unbehagen noch, als Studien zum Ergebnis kamen, im G 8 steige die Sitzenbleiber-Quote und sinke die Leistungsfähigkeit.

In den Staatskanzleien von Kiel bis München steigt deshalb die Bereitschaft, Abstriche zu machen. In Schleswig-Holstein bietet ein Sechstel der Gymnasien wieder G 9 an, in Baden-Württemberg soll es ab 2013 knapp ein Achtel sein. In Hessen sollen 2013 alle Gymnasien wählen können, ob sie G 8 oder G 9 anbieten. Und Bayern hat das "Flexibilisierungsjahr" für Mittelstufenschüler erfunden — wem die Anforderungen im G 8 zu hoch sind, der soll ein Jahr wiederholen können. Lediglich Rheinland-Pfalz widersetzt sich komplett und genehmigt G 8 nur auf Antrag.

Das Turbo-Abitur bleibt eine riesige Baustelle. Nur an einer Stelle ist der Umbau-Eifer erlahmt: in NRW. Zwar hat sich die rot-grüne Landesregierung das Vorhaben in den Koalitionsvertrag geschrieben, "den begonnenen Weg zur Entschärfung der Schulzeitverkürzung fortzusetzen". Eine große, die G 8-Struktur erneut infrage stellende Reform wie in Bayern soll das aber nicht werden — wohlweislich, denn aus allen Ecken schallt es: Um Himmels willen, nicht schon wieder!

"Strukturdebatten bringen nichts"

"Für ein grundlegendes Herangehen an G 8 bin ich nicht zu haben", sagt etwa Peter Silbernagel, Chef des Philologenverbands NRW: "Das würde die Gymnasien zerreißen. Strukturdebatten bringen nichts." Ähnlich sieht es die bildungspolitisch mit dem Philologenverband oft über Kreuz liegende Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft. "Wir wollen nicht zurück zu G 9", sagt die Landesvorsitzende Dorothea Schäfer. "Was wir brauchen, sind inhaltliche Verbesserungen." Die Reformpläne in Bayern seien "Augenwischerei im Vorwahlkampf".

Auch der Elternverein NRW winkt ab, freilich aus anderen Gründen: "Noch eine Reform würde den Kindern die Leistungsmotivation nehmen", sagt die Vorsitzende Regine Schwarzhoff: "Je mehr man ihnen einredet, sie seien mühselig und beladen, desto schlechter fühlen sie sich."

Unterstützung kommt aus der Wissenschaft: "Jetzt noch einmal Änderungen einzuleiten, halte ich für sehr riskant", sagte jüngst der Bildungsforscher Klaus Hurrelmann in der "Süddeutschen Zeitung" — und kritisierte den neu erwachten Reformeifer in Hessen, Baden-Württemberg und Bayern: "Mit dem jetzigen Aktionismus signalisiert man wieder einmal: Die Bildungspolitiker wissen nicht, wohin sie steuern."

Sichtbarstes Zeichen der Unlust, erneut den großen bildungspolitischen Schraubenschlüssel anzusetzen, war 2011 die Reaktion der Gymnasien auf das Angebot des Schulministeriums, ein überarbeitetes G 9 mit mehr Wochenstunden einzuführen: Ganze 13 von mehr als 600 Schulen machten mit. Die Sorge vor erneutem Chaos war größer als der Wille, das ungeliebte "Turbo-Abitur" loszuwerden; zu frisch waren die Erinnerungen an die katastrophale Anfangsphase, als es zwar plötzlich Nachmittagsunterricht und neue Lehrpläne, aber weder Mensen noch passende Schulbücher gab.

So gibt sich Ministerin Sylvia Löhrmann (Grüne) in dieser Grundsatzfrage denn auch zugeknöpft: "Die meisten Gymnasien haben sich für ein Festhalten an der Schulzeitverkürzung entschieden. Wir werden sie weiterhin bei der Umsetzung unterstützen." Als einzige konkrete Maßnahmen führt der Koalitionsvertrag die erneute Überprüfung der Lehrpläne sowie Umsetzung und Weiterentwicklung des Sieben-Punkte-Programms auf, das 2010 aus Beratungen des Ministeriums mit Lehrern, Eltern und Schülern hervorging.

Mehr Arbeit in die Schule verlagern

Dieser Katalog überlässt viele Maßnahmen zur "Entschärfung" den Schulen. Sie sollen etwa ein "neues Gleichgewicht zwischen Hausaufgaben und Schulaufgaben" finden, also mehr Arbeit in die Schule verlagern, "Ergänzungsstunden" für individuelle Förderung nutzen oder ihre Lehrpläne mit den Kerncurricula des Ministeriums abgleichen, um Druck von den Schülern zu nehmen.

Einem weiteren der sieben Punkte können sowohl Gewerkschaft als auch Elternverein zustimmen: Der weitere Ausbau des Ganztags — erst knapp ein Viertel der Gymnasien in NRW arbeitet mit Ganztagsbetreuung — kann viele Probleme mildern. "Der Ganztag erleichtert es zum Beispiel, zu einer sinnvolleren Fächer- und Aufgabenverteilung über den Tag zu kommen", sagt Regine Schwarzhoff vom Elternverein.

Jetzt liegt der Vorschlag des Philologenverbands auf dem Tisch, die Zahl der Klassenarbeiten zu senken und die Klausuren zu kürzen. Jedenfalls aber, sagt Peter Silbernagel, sei es jetzt am Ministerium, "mehr Service" anzubieten: "Bisher wurden viele Schulen alleingelassen. Da hat es sich die Politik zu einfach gemacht."

(RP/anch)
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