Tavsancil Türken marschieren für Gerechtigkeit

Tavsancil · Mitte Juni ist Oppositionsführer Kemal Kiliçdaroglu in Ankara mit Hunderten Gleichgesinnten aufgebrochen, um ein Zeichen gegen die Unterdrückung zu setzen. Bald wird er Istanbul erreichen.

Um drei Uhr nachmittags am Mittwoch, nach sechs Stunden Marsch auf dem heißen Asphalt der gesperrten Autobahn, stoppt der unabsehbar lange Zug der Menschen an einer Brücke. Kemal Kiliçdaroglu braucht eine Pause, er muss die Schuhe wechseln. Nur zehn Minuten später kommt der 69-jährige Chef der größten türkischen Oppositionspartei CHP wieder hinter einer Böschung hervor, umringt von einem Pulk von Freunden, Gefährten und sehr vielen, sehr nervösen Polizisten und Gendarmen. Es ist Tag 21 des "Marsches für Gerechtigkeit", der türkische Oppositionsführer nähert sich seinem Ziel, der 16-Millionen-Metropole Istanbul.

Als Kiliçdaroglu das Signal zum Aufbruch gibt, brandet Beifall auf unter den Menschen mit den weißen Kappen und Hemden, auf denen "Adalet" steht, "Gerechtigkeit". Sprechchöre erschallen: "Hak Hukuk Adalet!" - "Recht-Gesetz-Gerechtigkeit!" Linker Hand glitzert der Golf von Izmit tief unten in der Mittagssonne. Ein Regentag hat die Temperatur zum Glück etwas gesenkt. "Der Himmel meint es gut mit uns. Denn wir laufen für Gerechtigkeit", sagt Nihal, eine junge Frau aus Istanbul. Die Stimmung ist gut. Wenn begleitende Polizisten zu sehr schwitzen, bespritzen die Demonstranten sie mit Wasser.

Mitte Juni ist Kiliçdaroglu in der Hauptstadt Ankara mit Hunderten Gleichgesinnten aufgebrochen, um ein Zeichen zu setzen gegen die Unterdrückung der türkischen Opposition durch den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan. Anlass war die Verurteilung und anschließende Verhaftung des Abgeordneten und Vizechefs seiner sozialdemokratischen Republikanischen Volkspartei, Enis Berberoglu, wegen Geheimnisverrats, weil er angeblich Informationen über einen Waffentransport des türkischen Geheimdienstes MIT an syrische Islamisten an die Zeitung "Cumhuriyet" durchgesteckt habe.

Berberoglu ist nur einer von mehr als 50.000 Menschen, die seit Ausrufung des Ausnahmezustands verhaftet wurden, darunter führende Menschenrechtler und Journalisten und die Spitze der zweitgrößten Oppositionspartei HDP. Über 140.000 Menschen verloren bei umfassenden "Säuberungen" ihren Arbeitsplatz.

"Es reicht", befand Kiliçdaroglu, dem bis zu diesem Signal das Signum eines Zauderers anhing. Von heute auf morgen begann er seinen 450-Kilometer-Marsch für Gerechtigkeit - einen massenhaften gewaltlosen Protest, wie es ihn in der Türkei noch nie gegeben hat. Seither geht Kiliçdaroglu jeden Tag rund 20 Kilometer. "Wir haben einen Diktator, der uns regiert", ist seine Botschaft. "Das Ziel des Marsches ist es, unsere Demokratie, die ihren Sinn für Recht und Gerechtigkeit verliert, wiederzubeleben."

An diesem Tag, rund 50 Kilometer vor Istanbul, ist die Menge auf mehr als 30.000 Menschen gewachsen. Erstmals hat die Polizei für sie eine Seite der Autobahn komplett gesperrt, aus Sicherheitsgründen, wie es heißt. Am Morgen soll in der nahen Stadt Kocaeli eine Zelle der Terrormiliz Islamischer Staat ausgehoben worden sein, sechs Männer, die mutmaßlich mit einem "schwarzen Laster" in den Protestzug fahren wollten. Daraufhin wurden bisher beispiellose Schutzmaßnahmen ergriffen. Mehrere Hundert Polizisten und mit Maschinenpistolen bewaffnete Gendarmen laufen neben den Demonstranten. Vier furchterregend aussehende Schützenpanzer mit aufgepflanztem Maschinengewehr rollen an der Spitze und am Ende.

Bis zum Beginn des Marsches hatte die CHP es vermieden, zu Massenprotesten gegen Erdogan aufzurufen, selbst während der Gezi-Unruhen vom Sommer 2013, die der Welt erstmals offenbarten, wie sehr es in Teilen der türkischen Bevölkerung gärte. War Gezi eine Demokratie-Bewegung der Jugend, so folgen Kiliçdaroglu in diesen Tagen meist Menschen mittleren Alters, die Mittelschicht, die Mitte der Gesellschaft - Menschen wie er selbst. Der eher unauffällige ehemalige Bürokrat verkörpert einen für die Türkei ungewöhnlichen Politikertyp, der ihm auch wegen seiner äußerlichen Ähnlichkeit den Beinamen "türkischer Gandhi" einbrachte.

Das türkische Establishment um Erdogan ist nervös. In zunehmend schriller werdenden Äußerungen titulieren Ministerpräsident Binali Yildirim und die regierungsnahe Presse Kiliçdaroglu und seine Anhänger als "Komplizen des Terrors" und "Verräter". Das Verlautbarungsblatt "Yeni Safak" schrieb: "Der Marsch ist die Fortsetzung des gescheiterten Putsches."

Am 9. Juli will Kiliçdaroglu im Gefängnis in Maltepe eintreffen, dem Ziel seines Marsches, wo der Abgeordnete Berberoglu inhaftiert ist. Kiliçdaroglu wird am Marmarameer zu seinen Unterstützern sprechen. Der Oppositionsführer rechnet mit einer Million Teilnehmern.

(RP)
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