15-Jähriger stirbt nach 269 Tagen im Koma Türkei: Der Tod von Berkin Elvan entfacht die Wut aufs Neue

Istanbul · Der 15-jährige Berkin Elvan wollte nur Brot holen. Eine aus kurzer Distanz abgefeuerte Tränengasgranate traf ihn am Kopf. Er fiel ins Koma. Zuletzt soll er nur noch 16 Kilogramm gewogen haben. Sein Tod wirkt auf die Proteste wie ein Brandbeschleuniger. In der Nacht knallt es erneut. Erdogans Staat fliegt auseinander.

Die Gezi-Bewegung aus dem Jahr 2013 war schon von der Bildfläche verschwunden. Der Tod des 15-jährigen Berkin Elvan hat sie wiederbelebt. Zusammen mit der politik- und staatsverdrossenen Masse, die sich angesichts der Korruptionsaffäre von der Regierung Erdogan abwendet, bildet sie eine gefährliche Mischung.

Der 15-Jährige ist das inzwischen achte Todesopfer der Gezi-Park-Proteste. Sieben Demonstranten, ein Polizist. Sein Name stand während der 269 Tage, die er im Koma verbrachte, für die Brutalität der türkischen Polizei. Nun steht er auch für die Protestbewegung und ihre Entschlossenheit, den Druck auf die Regierung zu verstärken.

Der 15-jährige Elvan war im Juni auf dem Höhepunkt der Demonstrationen gegen die islamisch-konservative Regierung in Istanbul von einer Tränengaskartusche der Polizei am Kopf getroffen und schwer verletzt worden. Am Dienstag starb er.

Türkei: Mutter und Schwester weinen um Berkin Elvan
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Türkei: Mutter und Schwester weinen um Berkin Elvan

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Foto: afp, OZN/RT

Die Mutter des Jungen machte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan für den Tod ihres Sohnes verantwortlich: "Nicht Gott hat mir meinen Sohn genommen, sondern Ministerpräsident Erdogan!", sagte sie unter Tränen vor Journalisten. Erdogan hatte die Polizisten während der Proteste als "Helden" bezeichnet.

Die Nachricht löste umgehend neue Proteste und Krawalle in Istanbul und anderen türkischen Großstädten aus. Die Polizei ging abermals hart vor, setzte Wasserwerfer gegen rund tausend Demonstranten vor dem Istanbuler Krankenhaus ein, in dem Elvan gestorben war. Wieder flogen Granaten mit Tränengas, abermals soll es Verletzte gegeben haben.

Protestierende aus der aufgebrachten Menge warfen Steine auf einen Polizeibus und entwendeten Helme und Schilde. Mit der Wut mischt sich die Trauer. In zahlreichen Städten kamen Menschen zu spontanen Mahnwachen zusammen. Auf Plakaten ist das Gesicht des Jungen zu sehen. Symbolisch tragen Demonstranten Brote in den Händen und legen sie neben den Kerzen und Bildern nieder.

Auch in der Nacht gab es Zusammenstöße. Örtlichen Medien zufolge wurden in der Nacht mehr als 150 Demonstranten festgenommen. Nach Informationen der Nachrichtenagentur Dogan wurden rund 20 Demonstranten verletzt. Zwei von ihnen sollen von Polizeifahrzeugen angefahren und schwer verletzt worden sein. In Istanbul wurde Agenturberichten zufolge auch ein Polizist verletzt.

In Ankara ging die Polizei gegen rund tausend Studierende vor der Technischen Universität vor, die mit Fotos des toten Berkin in den Händen eine wichtige Verkehrsader blockierten. Proteste mit Sprechchören gegen Erdogan gab es unter anderem auch in Izmir, Antalya und Eskisehir.

Der Tod Elvans verschärft das innenpolitische Klima in der Türkei kurz vor den Kommunalwahlen am 30. März. Elvan gehörte nicht zu den Demonstranten, die im Juni gegen Erdogan auf die Straße gingen. Er wollte Brot für seine Familie kaufen, als er in eine Straßenschlacht geriet. Nach Angaben der Oppositionsbewegung schoss ein Polizist aus einer Entfernung von nur 25 Metern mit einem Tränengasgewehr auf den Jungen. Diese gezielten, offiziell verbotenen Schüsse auf Demonstranten waren damals bei vielen Kundgebungen beobachtet worden.

Die Tatsache, dass ein unbeteiligter Jugendlicher getötet wurde, macht Elvans Schicksal zum Symbol für die Protestbewegung. Hinzu kommt, dass Elvans Familie zu den Aleviten gehört, einer muslimischen Minderheit, die sich von der sunnitischen Mehrheit der türkischen Muslime diskriminiert fühlt.

Das verlieh dem Fall eine Dimension über den Konflikt zwischen Demonstranten und Regierung hinaus: Noch am Tag vor dem Tod des Jungen hatte sich Staatspräsident Abdullah Gül telefonisch bei der Familie nach dessen Zustand erkundigt. Nur Stunden später sprach er dessen Familie sein Beileid aus und rief dazu auf, "alles zu tun, damit so etwas nicht wieder passiert".

Das aber würde aus Sicht der Protestbewegung erfordern, auch in den Reihen des Staates aufzuräumen. Die teils brutale Gewaltanwendung der Polizei, die schützende Hand der Regierenden: Kein Polizist ist bisher wegen der tödlichen Gewalt verurteilt worden. Im Fall Elvan streiten alle infrage kommenden Beamten ab, den fatalen Schuss abgegeben zu haben.

Die Organisation Human Rights Watch nannte die Polizeigewalt in der Türkei ein "endemisches Problem". Es müsse dringend aufgeklärt werden, welche Polizisten für den Tod des Jungen verantwortlich seien, fügte die Menschenrechtsorganisation in einer Erklärung hinzu. "Berkin und seine Familie verdienen Gerechtigkeit."

Erdogan hatte vergangene Woche seinen Rücktritt für den Fall angekündigt, dass seine Regierungspartei AKP die Kommunalwahlen Ende des Monats verliert. Allerdings dürfte es kaum dazu kommen, da die Erdogan-Partei Umfragen zufolge trotz der Korruptionsaffäre um die Regierung unangefochten an der Spitze liegt.

Doch die Zukunft des Landes steht auf der Straße und demonstriert. Studenten, Gebildete, Städter. Das angedrohte Verbot von Facebook und Twitter, die Korruptionsaffäre, die Polizeigewalt gegen die Gezi-Park-Proteste ergeben zusammen eine gefährliche Mischung.

An diesem Mittwoch wird der 15-Jährige beerdigt. Tausende werden erwartet. Die Stimmung ist gereizt. Für den Abend sind neue Proteste angekündigt.

Mit Material von AFP

(RP)
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