Moskau Syrer fliehen mit Fahrrad nach Norwegen

Moskau · Nach russischem Gesetz darf niemand zu Fuß die Grenze in das skandinavische Land passieren. Dort wiederum ist es untersagt, Menschen ohne gültige Papiere im Auto mitzunehmen. Die Flüchtlinge müssen deshalb improvisieren.

Im Februar war es noch ein Geheimtipp, als die ersten sechs Flüchtlinge aus Syrien vom russischen Nikel über die Grenze ins norwegische Storskog rollten - 400 Kilometer nördlich des Polarkreises. Norwegen hieß die seltenen Gäste willkommen und brachte sie vor Ort im besten Hotel unter. Ein paar Tage Erholung, dann ging es entspannt weiter - mit dem Flugzeug nach Oslo, wo die Asylformalitäten erledigt wurden. In aller Ruhe. Die Art des Empfangs erinnert an orientalische Gastfreundschaft. Die Gäste priesen in den sozialen Medien fortan Norwegens hohen Norden.

Im Mai kamen dann schon erheblich mehr. Nicht nur Syrer, auch Afghanen und Iraker machten sich auf die Polarroute. Es ist die schnellste, sicherste und günstigste Verbindung aus dem Mittleren Osten in den Schengen-Raum.

Der Expressweg mit einer Länge von mehr als 4000 Kilometern führt von Beirut über Moskau nach Murmansk an der Barentssee und weiter bis in das nordwestrussische Städtchen Nikel. Die Strecke ist in weniger als zwei Tagen zu bewältigen. Bis Murmansk gibt es eine Flugverbindung, von dort geht es im Taxi 300 Kilometer weiter in den karelischen Grenzort Nikel.

Dort taucht die erste wirkliche Schwierigkeit auf. Russland duldet keinen Grenzübertritt zu Fuß. Norwegen wiederum verbietet den motorisierten Transport von Personen ohne gültige Schengen-Visa. Wer dagegen verstößt, dem droht ein Verfahren wegen Schleuserei und Menschenhandel. Auf jeden Fall muss, wer erwischt wird, mit einer Geldstrafe von mehr als 1000 Euro rechnen. Daher floriert in Nikel der Handel mit Fahrrädern. Jeder Grenzgänger braucht ein "Velosiped" - ein Rad. Auch bei Kindern wird keine Ausnahme gemacht. Wer noch nicht sicher radeln kann, der stößt sich mit den Füßen vorwärts ab.

Bis August kamen 420 Flüchtlinge, berichtet der norwegische Grenzpolizist Stein Kristian Hansen. Inzwischen sind es bis zu 1000, die monatlich über die Grenze radeln. Für den Syrer Jasir ist der Grenzübertritt in Storskog "besser als die Fahrt übers Mittelmeer", sagt der 55-Jährige, der mit seiner Frau und zwei Söhnen unterwegs ist, einem norwegischen Radiosender. Viele Flüchtlinge haben Verwandte, die sich schon über die beschwerliche Balkan-Route nach Europa durchgeschlagen haben. Schlimmer könne der Weg über den Polarkreis auch nicht sein, hätten sie gesagt.

Im Oktober schickte Norwegen jedoch 150 Asylsuchende wieder zurück. Sie hatten in Russland schon längere Zeit mit einer Aufenthaltserlaubnis gelebt. Auch Syrer in der russischen Diaspora nutzen jetzt noch einmal die Chance, in einer wirtlicheren Umgebung Fuß zu fassen. "Sie fliehen nicht vor Krieg, Armut oder Hunger. Sie haben schon einen sicheren Hafen in Russland", meinte der norwegische Justizminister. Auch Oslos Außenminister intervenierte bei seinem russischen Amtskollegen. Seit den neuen Ost-West-Spannungen winkten russische Grenzer die Flüchtlinge einfach nur noch durch. Das einzige, was die Grenzer interessiert, ist die Art der Fortbewegung.

Mittlerweile werden die Ankömmlinge gleich bei der Ankunft im Norden Norwegens registriert und nicht mehr nach Oslo geflogen. Auch in Nikel hat sich etwas verändert, womit Russlands Außenminister Sergej Lawrow wohl nichts zu tun hat: Russische Grenzer lassen täglich nur noch ein paar Dutzend Flüchtlinge durch. Angeblich begrenze Norwegen den Zustrom.

Im alten Sanatorium "Polarlicht" in Nikel stauen sich jetzt die Menschen. 40 Euro verlangt der Besitzer für eine Übernachtung, erzählt der Afghane Salim. Zwar gebe es eine Warteliste für die Grenze, wer zusätzlich zahle, erhalte jedoch eine "Expressbehandlung".

In Storskog sammelt die Polizei die Fahrräder aus Nikel wieder ein. Sie landen in einem Container und werden entsorgt. Die russischen "Velosipedy" entsprechen nämlich weder norwegischen Qualitäts- noch Sicherheitsstandards, auch wenn die Händler auf der anderen Seite Hunderte Dollar dafür verlangen. Die Ware ist knapp. Manche Fahrräder sind noch teilweise originalverpackt, wenn ihre Kurzzeit-Eigentümer damit losrollen.

(RP)
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