"Stuttgarter regen sich im Namen der Steuerzahler auf"

Interview Der Wirtschaftshistoriker Werner Abelshauser über die Wurzeln des Protests und den Stellvertreter-Krieg in Stuttgart

Herr Prof. Abelshauser, Sie sind der bekannteste Wirtschaftshistoriker. Sind die Deutschen technikfeindlich?

Abelshauser Im Grunde nicht. Deutsche Ingenieurskunst genießt hohes Ansehen. Selbst die Kernkraft galt den Deutschen lange als die geeignete Lösung des Energieproblems. Erst in den 70er Jahren wich dieser Optimismus, weil die neue Technik enttäuschte. Unfälle demonstrierten die Gefahr, und bis heute ist die Endlagerfrage nicht geklärt. Hinzu kommt ein wachsendes Misstrauen in eine vom Finanzmarkt dominierte Wirtschaft.

Wie sieht es in anderen Ländern aus?

Abelshauser Angelsachsen haben diese Ängste nicht. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiteten in England mehr Menschen in der Dienstleistungswirtschaft als in der Industrie. In Deutschland fand dieser Wechsel erst in den 60er Jahren statt. Es ist also kein Zufall, dass die Finanzwelt in England zu Hause ist.

Erklärt das die Proteste in Stuttgart?

Abelshauser Nicht allein. Der Stuttgarter Protest entspricht nicht dem üblichen Muster. Hier geht es nicht um Technikfeindlichkeit und auch nicht um Bürger, die Industrieprojekte vor ihrer Haustür bekämpfen.

Was spielt dann die Hauptrolle?

Abelshauser Es gibt wohl auch eine typische schwäbische Mentalität. Im Südwesten ist der Untertanengeist traditionell schwach ausgeprägt. Dafür die Sparsamkeit und der Sinn für vernünftige Proportionen umso mehr. Auch wenn sie den neuen Bahnhof fast geschenkt bekommen, regen sich die Stuttgarter sozusagen stellvertretend für alle Steuerzahler über die explodierenden Kosten des Projektes auf.

Bei Kraftwerken geht es meist um das Sankt-Florians-Prinzip.

Abelshauser Oder auch Nimby-Prinzip. Nimby steht für "Not in my back yard" (Nicht in meinem Vorgarten). Alle wollen preiswerte, sichere Energie, aber keiner will ein Kraftwerk vor der Haustür. Aus solchen Protesten aus persönlicher Betroffenheit können schnell große Bewegungen werden.

Ein Beispiel?

Abelshauser Auch die Anti-Atom-Bewegung hat mal klein angefangen, als im idyllischen Wyhl 1975 ein Atomkraftwerk gebaut werden sollte. Weinbauern sahen das Mikroklima für den Weinanbau in Gefahr. Sie waren sogar gewaltbereit. Schon damals hat die baden-württembergische Landesregierung unsensibel reagiert und brachte massiv die Polizei in Stellung. Am Ende entstand aus diesem lokalen Protest eine Bürgerbewegung und mit den Grünen eine neue Partei.

Wer protestiert eigentlich?

Abelshauser Das hat sich gewandelt. In den 70er und 80er Jahren gingen vor allem junge Leute auf die Straße, die für abstrakte Ideen und eine bessere Welt kämpften. Heute ist der Demonstrant älter und bürgerlicher.

Das ändert auch die Protestformen. Bürgerbegehren werden beliebter.

Abelshauser Das liegt auch an der deutschen Verfassung. Deutschland wird extrem repräsentativ regiert. Unser Grundgesetz hegt – aus nachvollziehbaren historischen Gründen – Misstrauen gegen die spontane Partizipation des Souveräns. Nach einem halben Jahrhundert Abstand von schlechten Erfahrungen wird dies immer weniger akzeptiert. Bürgerbegehren werden deshalb immer attraktiver, weil sie mehr Demokratie versprechen.

Antje Höning führte das Gespräch.

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