Steinmeier erwägt Grundgesetz-Reform

Interview Der SPD-Fraktionschef über die Euro-Krise, die Isolierung Großbritanniens und die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung

Rechnen Sie wegen des Euro in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr mit weiteren Krisensitzungen auf EU-Ebene?

Steinmeier Ich selbst freue mich auf Weihnachten, auf meine Familie und auf die längste Jahreszeit, auf die Zeit zwischen den Jahren.

Wird es denn Krisensitzungen geben?

Steinmeier Wir sind nach dem letzten europäischen Gipfel nicht über den Berg. Aber ich sehe nicht, dass weitere Krisentreffen zwischen Weihnachten und Neujahr das in Brüssel Versäumte aufholen können.

Auf europäischer Ebene wurde nun eine Art Stabilitätsunion verabredet. Begrüßen Sie die Entscheidung?

Steinmeier Nichts braucht Europa so sehr wie Stabilität. Ob der Gipfel oder die deutsch-französischen Vorschläge den Weg dahin geebnet haben, daran zweifle ich allerdings sehr. Kernprobleme werden nicht angegangen: Wie bringen wir Wachstum in Gang, wie gehen wir mit Altschulden der am höchsten verschuldeten Länder um, wie beteiligen wir die Finanzmärkte an den Kosten der Krise? Nichts davon ist im Gipfelbeschluss von Brüssel enthalten.

Immerhin wurde das Vorziehen des Euro-Rettungsschirms ESM beschlossen, was die Sozialdemokraten immer gefordert haben.

Steinmeier Dennoch: Die Lösungsvorschläge gehen in weiten Teilen am Problem vorbei. Die Behauptung, der Gipfel habe automatische Sanktionen zur Haushaltsdisziplin der europäischen Staaten vereinbart, ist schlicht unwahr. Deshalb sind wir auch von einer Fiskalunion weit entfernt. Kanzlerin Merkel und der französische Staatspräsident Sarkozy räumen mit diesen Beschlüssen doch ein, dass der Rettungsschirm von September zu knapp war. Sie suchen aber nicht in der Politik nach der Zustimmung für Erweiterung, sondern bauen einen neuen Hebel ein, indem über die Bundesbank und die europäische Zentralbank Geld an den Internationalen Währungsfonds IWF fließt und von dort nach Europa zurückkommt – unter Umgehung der Parlamente.

Wo sehen Sie Licht am Ende des Tunnels?

Steinmeier Die Krise des Euro wird sich nur lösen lassen, wenn die Regierung Merkel nicht länger das Kernproblem Schulden-Altlast unter den Tisch kehrt. Der Sachverständigenrat der Wirtschaftsweisen hat dazu einen klugen Vorschlag gemacht. Ein Teil der Altschulden der europäischen Länder sollte in einen europäischen Schuldentilgungsfonds fließen und von den Ländern über einen langen Zeitraum von 25 Jahren zu einem erträglichen Zinssatz zurückgezahlt werden.

Wie schlimm ist für die Europäische Union die Isolierung Großbritanniens?

Steinmeier Auch ich habe mich oft genug geärgert über britische Sonderinteressen! Aber uns muss bewusst sein, dass wir mit dem Verlust von Großbritannien ein historisches Element der europäischen Einigungsgeschichte aufgeben. Ich will mir nicht vorstellen, dass wir die europäische Zukunft ohne einen so wichtigen Partner wie Großbritannien schreiben.

Können häufige EU-Treffen ohne Briten dazu führen, dass Großbritannien am Ende die Europäische Union verlassen wird?

Steinmeier Ich fürchte, der entscheidende Schritt für ein Ausscheiden Großbritanniens aus der EU ist getan. Wenn die regelmäßige Veranstaltungsform der EU ein Europa der 26 ohne Großbritannien wird, dann ist ein Entfremdungsprozess unvermeidbar und am Ende unumkehrbar.

Wird durch die Isolierung Großbritanniens auch die transatlantische Partnerschaft geschwächt?

Steinmeier Amerika orientiert sich zunehmend pazifisch. Eine weitere Schwächung der transatlantischen Partnerschaft sollten wir unbedingt vermeiden. Bei einer Trennung Großbritanniens von Europa wäre das aber unweigerlich der Fall.

Muss die Politik das deutsche Grundgesetz im kommenden Jahr an die neuen europäischen Verträge anpassen?

Steinmeier Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat dem Gesetzgeber die Grenzen aufgezeigt. Sie fordert die Politik auf, bei der Übertragung von Hoheitsrechten auch die rechtlichen und, wenn notwendig, auch die verfassungsrechtlichen Konsequenzen zu ziehen. Dass das notwendig sein wird, kann ich nicht ausschließen.

Beim Parteitag haben Sie den Eindruck erweckt, als wollten Sie noch einmal Kanzlerkandidat werden.

Steinmeier Das war ein toller Parteitag. Peer Steinbrück, Sigmar Gabriel und ich haben auf dem Parteitag das getan, was wir auch auf früheren Parteitagen getan haben: Wir haben geredet.

Wer war denn der Beste?

Steinmeier (lacht) Helmut Schmidt war doch klasse, oder?

Kann sich die SPD erlauben, bis nach der Niedersachsen-Wahl 2013 mit der Entscheidung über den Kanzlerkandidaten zu warten?

Steinmeier Die SPD wäre schlecht beraten, sich einen Zeitplan aufdrängen zu lassen. Wir entscheiden Ende 2012 oder Anfang 2013.

Vom Parteitag ist ein starkes rot-grünes Signal ausgegangen. Wird es 2013 einen Lagerwahlkampf geben?

Steinmeier Schwarz-Gelb hat keine Zukunft mehr, weil der Union der liberale Partner verloren geht. Ein Politikwechsel kann nur mit Rot-Grün gelingen.

Wenn es für Rot-Grün nicht reicht, fangen Sie die Liberalen in einer Ampelkoalition auf?

Steinmeier Welche Liberalen?

Michael Bröcker und Eva Quadbeck führten das Gespräch.

(RP)
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