Kolumne Wissensdrang Was unscheinbare Pflanzen in der Stadt über den Klimawandel verraten
Meinung · Manche Pflanzen sind Gewinner des Klimawandels und breiten sich hierzulande aus. Man kann sie auch in Städten entdecken, an Orten, die man leicht übersieht: den Ritzen im Pflaster zum Beispiel.
Stadtpflanze des Jahres 2023 ist das Vierblättrige Nagelkraut (Polycarpon tetraphyllum). Es ist eine Zeigerpflanze für den Klimawandel und ein Gewinner der Klimakrise. Es profitiert vom Menschen und bereist als blinder Passagier in Containern die Erde. Wo es ihm gefällt, breitet es sich aus. Das Nagelkraut ist trittfest, liebt mediterranes Flair und wächst bevorzugt zwischen Pflasterritzen. Dort ist die pflanzliche Konkurrenz wegen der widrigen nährstoffarmen, trockenen und teils heißen Umgebung gering.
In diesen Tagen im Frühjahr blüht eine weitere Bewohnerin der Stadt: die filigrane Acker-Schmalwand (Arabidopsis thaliana). Sie hat sich schon längst als Touristin von Süd- bis Nordeuropa verbreitet. In unseren pflanzenwissenschaftlichen Laboren ist Arabidopsis als Modellpflanze ein beliebter Gast (Modellorganismen sind für genetische Studien leicht zugänglich). Wir züchten Tausende dieser Pflanzen an Universitäten weltweit, erforschen ihre Gene und untersuchen die Folgen von Genveränderungen in verschiedenen Umweltsituationen. Somit kennen wir das Zusammenspiel der 30.000 pflanzlichen Gene mit der Umwelt recht gut. Die Arabidopsis-Pflanzen in der Stadt ähneln sich augenscheinlich. Einzelne Varianten unterscheiden sich genetisch und werden sich mit dem Klimawandel bei uns bevorzugt ausbreiten.
Das Nagelkraut könnte invasiv werden. Die Ackerschmalwand kommt in unterschiedlichen Umwelten in der Stadt vor. Auf einem Stadtspaziergang kann man menschengemachte Faktoren erleben, mit denen wilde Stadtpflanzen zurechtkommen: gestörte und geflickte Lebensräume mit unterschiedlichen Bodenverhältnissen, erhöhte Temperatur, oft Trockenheit, Lichtverschmutzung, Stickstoffeintrag sowie Beschädigung von Pflanzen durch menschliche Eingriffe. Ich finde, es lohnt sich, auf das eigene Verhalten zu achten und die Auswirkungen auf die wilde Stadtnatur aufmerksam zu beobachten. Die unscheinbarsten Pflanzen haben uns oft das meiste zu erzählen.
Unsere Autorin ist Professorin für Botanik an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Sie wechselt sich hier mit der Philosophin Maria-Sibylla Lotter und der Pharmazeutin Nicole Teusch ab.