Bundeskanzlerin Angela Merkel Die großen Niederlagen

Berlin · Merkel wollte einst als Sozialreformerin starten. Nachdem sie darüber die Wahl 2005 fast verlor, erlahmte der Reformeifer. In der Klimapolitik enttäuschte sie. Bei der Digitalisierung verirrte sie sich im Neuland.

 Merkel mit Virtual-Reality-Brille auf der Hannover-Messe 2016.

Merkel mit Virtual-Reality-Brille auf der Hannover-Messe 2016.

Foto: AP/Christian Charisius

Mut. Das war das zentrale Wort von Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag 2003 in Leipzig: „In einer veränderten Welt kommen wir ohne einen mutigen Schritt nicht aus.“ Vor allem in der Gesundheitspolitik hatte die CDU-Chefin viel vor – mit der Umrüstung der gesetzlichen Krankenversicherung von lohnabhängigen Beiträgen auf ein Prämienmodell. Ökonomisch richtig, doch taktisch verheerrend. Die SPD diskreditierte das Ganze erfolgreich als „Kopfpauschale“ und verlor bei der Bundestagswahl 2005 nur knapp. Fast wäre die Frau aus der Uckermark nicht Kanzlerin geworden. Daraus zog sie den Schluss: Die Deutschen wollen keine großen Reformen, erst recht keine Sozialreformen. Also hat Merkel sie damit 16 Jahre lang auch kaum behelligt.

In entsprechend schlechter Verfassung ist das Land nun, was die Zukunftsfähigkeit der Sozialsysteme angeht. Die Sozialabgaben liegen bereits bei 40 Prozent, was für Arbeitnehmer und Betriebe eine große Belastung ist. Und das dicke Ende kommt noch: wenn die Babyboomer in Rente gehen und nicht mal mehr zwei Beitragszahler auf einen Rentner kommen. Der demografische Wandel wird zum Sprengsatz für Renten- und Gesundheitssystem.

Angela Merkel – herausragende Momente einer Kanzlerin (in Bildern)
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Angela Merkel – herausragende Momente einer Kanzlerin

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Foto: dpa/Peter Kneffel

„Wenn die Gesetze der Mathematik nichts anderes mehr zulassen, dann muss die Politik die richtigen Weichen stellen“, hatte Merkel in Leipzig gesagt. Dann verließ sie der Mut. Zwar hat ihre große Koalition 2007 die notwendige Rente mit 67 beschlossen, was der Bevölkerung schon schwer zu vermitteln war. Doch nun haben ihr selbst Regierungsberater bescheinigt, dass dies nicht reicht: Der Wissenschaftliche Beirat des Wirtschaftsministeriums warnt vor einem Finanzierungsschock der Rentenversicherung und fordert eine längere Lebensarbeitszeit, etwa die Rente mit 68. Doch auch das Wahlprogramm von Armin Laschet drückt sich um die Frage, wie die Rente langfristig finanziert wird.

„Wir müssen Neuland betreten“, hatte Merkel einst in Leipzig gesagt. Das geschah in der Sozialversicherung nicht. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit, der in ihre Amtszeit fiel, hat sie vor allem Gerhard Schröders „Agenda 2010“ zu verdanken. Ökonomisch vernünftig, taktisch verheerend hatte die Reform die SPD fast zerlegt.

Auch mit einem anderen Neuland hatte die Kanzlerin Probleme: „Das Internet ist für uns alle Neuland“, hatte Merkel 2013 auf einer Pressekonferenz mit US-Präsident Barack Obama gesagt und wollte auf das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit im Netz hinaus. Doch der Satz sagt bis heute viel über den schlechten Stand Deutschlands bei der Digitalisierung aus. Die Internetwirtschaft hat junge US-Firmen wie Amazon zu globalen Riesen gemacht. Mit SAP ist heute nur noch ein deutscher unter den 100 wertvollsten Konzernen der Welt. Nun gründet gute Politik zwar nicht, aber sie schafft gute Rahmenbedingungen. Daran hapert es bis heute. Die deutsche Wirtschaft klagt über Investitionsmangel in klassische und digitale Infrastruktur, Gründer verzweifeln an der Bürokratie. Die Corona-Pandemie legt schonungslos offen, wie rückständig Verwaltung und Bildung sind: Gesundheitsämter mit Faxgeräten und Schulen ohne W-Lan wurden zum Symbol dafür, welch geringen Stellenwert die Digitalisierung in den Merkel-Jahren hatte. Daran ändern Cebit-Besuche nichts, bei denen die Kanzlerin Virtual-Reality-Brillen ausprobierte.

Erst recht verprellte Merkel die Wirtschaft mit ihrer Energiepolitik. Am 15. März 2011 begann für die Kernkraft hierzulande die Eiszeit. Am Morgen hatte die Kanzlerin Ministerpräsidenten zum Atomgipfel eingeladen. Vier Tage zuvor hatte ein Tsunami mit bis zu 15 Meter hohen Wellen die japanische Pazifikküste erreicht und im Kernkraftwerk Fukushima zu einem Ausfall des Kühlsystems geführt. Die Folge war die zweite Kernschmelze nach Tschernobyl im Jahr 1986 - und das in einem der technologisch führenden Ländern der Welt.

Die Kanzlerin, die kurz zuvor eine Verlängerung der Laufzeiten der Kernkraftwerke durch den Bundestag gebracht hatte, beschloss nun mit den Ministerpräsidenten ein Moratorium der Laufzeitverlängerung und die Abschaltung von sieben älteren Meilern. Ausgerechnet die Frau, die Mitte der 90er Jahre als Bundesumweltministerin die Kernenergie „verantwortbar und ökologisch sauber und technisch hochstandardisiert“ bezeichnete, meinte nun: „Wenn schon in einem Land wie Japan mit sehr hohen Sicherheitsanforderungen nukleare Folgen eines Erdbebens und einer Flutwelle augenscheinlich nicht verhindert werden können, dann kann auch ein Land wie Deutschland mit ebenfalls hohen Sicherheitsanforderungen nicht einfach zur Tagesordnung übergehen.“ Fukushima, so Merkel, sei ein „Einschnitt für die Welt“.

Fukushima steht für eine der ganz großen Krisen der Merkel-Jahre. Schnell und entschlossen zog die Christdemokratin ihre ganz speziellen Schlüsse aus der Katastrophe. Die Physikerin setzte geradezu brachial den Ausstieg durch - übrigens als einziges westliche Land so konsequent. Ende 2022 sollen nun die letzten sechs Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Im Jahr 2000 produzierten 19 Atommeiler fast 30 Prozent des deutschen Stroms. 20 Jahre später sind es nur noch knapp elf Prozent. Die „quijotische Energiepolitik Merkels“, so das Wirtschaftsmagazin Economist, gilt als eine der größten wirtschaftspolitischen Niederlagen der scheidenden Kanzlerin. Obwohl die Abschaltung der Atomkraftwerke 2011 ihr zwei Jahre später den größten Sieg in einer Bundestagswahl bescherten. Wieder siegte politische Taktik über ökonomische Vernunft.

Hinzu kommen die gewaltigen Subventionen für Wind- und Sonnenkraft, die den Strom für Haushalte und Industrie so teuer machen. Über 80 Milliarden Euro der deutschen Energiekosten haben ihre Ursache in staatlichen Eingriffen. Musste eine vierköpfige Familie zum Amtsantritt der Kanzlerin rund 52 Euro monatlich für die Stromrechnung zahlen, sind es nun über 93 Euro. Statt „sicher, kostengünstig und nachhaltig“ (Eigenwerbung der Bundesregierung) ist die Stromversorgung überteuert und unsicherer geworden.

Nicht einmal die Öko-Bilanz ist makellos. Zwar ist der CO2-Ausstoß der Energiewirtschaft während der 16 Jahre der Kanzlerschaft Merkels um 15 Prozent zurückgegangen. Doch wenn der Wind nicht wehte und die Sonne nicht schien, mussten alte Kohle- und Gaskraftwerke angefahren werden. Für das Klima war der Rückgang ohnehin zu gering. Nicht zuletzt die „Fridays for Future“-Bewegung heizte der Regierung an. Spätestens 2038 steigt Deutschland nun aus der Kohle aus, abgefedert mit Dutzenden Milliarden an Steuergeld.

 Doch während andere Länder ihre Energiepolitik wieder korrigierten, steigt Deutschland aus Kohle und Atom aus. Die Energiepolitik der sonst so rationalen Kanzlerin war in sich unlogisch und höchst unwirtschaftlich. Ein dritter, klarer Minuspunkt ihrer Kanzlerschaft.

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