Attawapiskat Selbstmordwelle erschüttert kanadische Indianer-Gemeinde

Attawapiskat · Im Norden des Landes lässt die trostlose soziale Lage die Suizidrate explodieren. Ein Dorf hat jetzt den Notstand ausgerufen.

Die kleine Gemeinde Attawapiskat ist ein trostloser Ort. Viele Bewohner leben zusammengepfercht in kleinen Holzhütten, in Bretterverschlägen, Containern, manchmal in Zelten. Oft gibt es keine Heizung, kein fließend Wasser, keinen Strom. Wenn die Abwasserleitungen mal wieder verstopft sind, urinieren die Bewohner in Eimer, die sie im Straßengraben ausschütten. Doch Attawapiskat liegt nicht in der Dritten Welt, sondern in Kanada. Hoch oben im Norden des Landes, in einer isolierten Region mitten in einem Sumpfgebiet. Eine befestigte Straße dorthin gibt es nicht, nur eine kleine Flugpiste aus Schotter. Etwa 1500 Menschen leben dort, die meisten vom Stamm der Cree-Indianer. Die Arbeitslosenquote liegt bei 70 Prozent.

Seit Jahren steht Attawapiskat in Kanada wegen der dramatischen sozialen Lage in den Schlagzeilen. Anfang April mussten die Ältesten zum fünften Mal seit 2006 den Notstand ausrufen, dieses Mal, weil das Dorf von einer beispiellosen Selbstmordserie heimgesucht wird.

"Bitte betet für Attawapiskat", flehte Häuptling Bruce Shisheesh über Twitter. Zuvor hatten elf zumeist junge Leute versucht, sich das Leben zu nehmen. Tags darauf drohten weitere 13 ihren Suizid an. Weil das örtliche Krankenhaus überfüllt ist, musste ein Teil der Patienten im Gefängnis auf eine psychologische Betreuung warten. Nach Angaben des Gemeinderates von Attawapiskat hatten alleine im März 28 Menschen versucht, sich selbst zu töten. Seit dem Herbst waren es mehr als 100, fast acht Prozent der Bevölkerung. Der Jüngste war gerade einmal elf Jahre alt, der älteste 71. Mindestens eine junge Bewohnerin starb nach ihrem Selbsttötungsversuch: Sheridan Hookimaw war 13 Jahre alt und galt als aufgewecktes Mädchen, als sie sich im Oktober das Leben nahm. Angehörige erzählen, dass sie sich in der Schule gemobbt gefühlt habe. Wie so viele in Attawapiskat litt sie unter Lagerkoller: Über Monate hatte sie mit 20 Verwandten in einem Zwei-Zimmer-Appartement gelebt. Sie war an Depression, Diabetes und Asthma erkrankt - bis sie ihrem Leid ein Ende setzte.

Tatsächlich gehören Drogenprobleme, Alkoholmissbrauch und häusliche Gewalt in vielen Indianergemeinden Kanadas zum Alltag. Die Selbstmordraten indigener Jugendlicher sind dort fünf bis sieben Mal höher als im Rest des Landes, in einigen Gemeinden in der Arktis sogar elf Mal so hoch. Für junge Menschen gibt es in vielen betroffenen Orten kaum was zu tun. Oft gibt es keine Kinos, keine Jugendclubs, nicht mal ein Café. "Viele Familien sind zerrüttet. Schlägereien, Gewalt und Kriminalität sind im Norden leider an der Tagesordnung", berichtet Lao Jaw, die in einer Inuit-Gemeinde für die Justizbehörde arbeitet. Nach Ansicht von Experten hat die Misere auch mit der kulturellen Entwurzelung vieler Ureinwohner zu tun. "Viele junge Leute haben keine Verbindung mehr zu den Bräuchen ihrer Eltern oder Großeltern und wirken verloren zwischen den Kulturen", berichtet Jaw. Immer weniger sprechen die Sprachen ihrer Vorfahren oder nehmen an der traditionellen Jagd oder Fischerei teil, die das nomadische Leben im Norden einst prägte.

Sozialarbeiter, Erzieher und Ärzte vor Ort sind mit der Situation völlig überfordert. Premier Justin Trudeau sprach von einer "erschütternden" Lage und hat Hilfe versprochen.

(RP)
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