Genf Schweiz fürchtet Verlust von Top-Kräften

Genf · Viele Chefsessel von Schweizer Großkonzernen sind fest in deutscher Hand. Sollte die Einwanderung begrenzt werden, fürchten Wirtschaftsverbände gravierende Folgen bei der Anwerbung von ausländischem Spitzenpersonal.

Genfer Bahnhof, 7 Uhr morgens. Tausende Männer und Frauen im dunklen Business-Dress steigen aus den Zügen, eilen in ihre Büros. Es sind Schweizer, Franzosen, Deutsche, Briten, Italiener. Das dominierende Thema: Das Ja der Eidgenossen zu der Anti-EU-Initiative "Gegen Masseneinwanderung" vom Sonntag. Viele fragen sich: Wird jetzt die brummende Wirtschaft der Eidgenossenschaft leiden?

Denn bislang war die Schweiz ein Magnet für Hochqualifizierte aus dem übrigen Europa – besonders aus dem deutschsprachigen Ausland. So sorgte zuletzt der Wechsel von Wolfgang Reitzle für Aufsehen. Der Linde-Chef wechselt in diesem Jahr zum Schweizer Zementhersteller Holcim. Auch der ehemalige Bundesbank-Präsident Axel Weber hat Deutschland den Rücken gekehrt. In der Schweiz leitet er als Präsident den Verwaltungsrat der größten Schweizer Bank, der UBS.

Nach der Volksabstimmung fürchten nun viele, dass die Rekrutierung von ausländischem Personal nicht mehr so einfach sein dürfte wie bisher. So sagt der Verwaltungsratspräsident des Pharmaunternehmens Galenica, Etienne Jornod: "Wir gehen nach der Abstimmung davon aus, dass sich ausländische Bewerber zweimal überlegen, ob sie ein Stellenangebot hier annehmen." Bei Galenica arbeiten zu einem Drittel Ausländer. Hans-Ulrich Bigler, Vorsitzender des Gewerbeverbands, sieht sogar die Gefahr, dass große Firmen wie Google komplett abwandern – weil sie keine Fachkräfte mehr finden.

Denn viele Branchen in der Schweiz können ohne ausländische Spezialisten und Facharbeiter kaum funktionieren. In der Pharma- und Biotech-Industrie, der größten Exportbranche der Schweiz, kommen 45 Prozent der 65 000 Beschäftigten nach Angaben des Verbandes Scienceindustries aus der EU. Täglich pendeln Tausende Menschen über die Grenze nach Basel zu Firmen wie Novartis und Roche – an deren Spitze mit Jörg Reinhard (Novartis) und dem Noch-Lufthansa-Chef Christoph Franz ebenfalls Deutsche stehen oder stehen werden.

Deutsche finden sich in der Schweiz jedoch auch in der Hotellerie, in Krankenhäusern, als Ärzte und Pfleger, sie verdienen ihr Geld als Ingenieure oder als Busfahrer. "In vielen Branchen kommt man ohne die deutschen Fachkräfte nicht mehr aus", erklärt Fritz Burkhalter, Vorsitzender des Swiss German Club.

Industrieverbände wie Economiesuisse befürchten, dass sich die "negativen Auswirkungen auf den Wirtschaftsstandort Schweiz" nicht allein auf das Personal beschränken. Die EU werde sich nicht von der kleinen Schweiz vorführen lassen. Da wird es wenig nützen, dass die Eidgenossenschaft mehr als eine Milliarde Euro zum Aufbau der östlichen EU-Staaten zuschießt oder den Europäern als Transitland dient. "Zum Nulltarif werden wir die Folgen des Ja nicht erhalten", unkt Hans-Ulrich Bigler.

Schweizer Firmen fürchten, dass Brüssel ihnen den Zutritt zu den europäischen Märkten erschweren könnte. Bislang sorgen Abkommen mit der EU dafür, dass die Firmen von Nordschweden bis Süditalien fast genauso frei operieren können wie die Konkurrenz aus dem EU-Raum. "Jeder dritte Arbeitsplatz lebt vom Handel mit Europa", heißt es bei den Wirtschaftsverbänden.

(RP)
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