Kanzler Scholz in der Türkei Erdogans Charme- und Friedensoffensive
Analyse | Ankara · Beim Antrittsbesuch in Ankara wird Kanzler Scholz wie ein alter Freund behandelt. Der raubeinige türkische Präsident tritt wie verwandelt auf und will im Ukraine-Krieg vermitteln. Und dann wird auch noch über Schröder und Merkel gesprochen.
Olaf Scholz wird hofiert. Nachdem der Kanzler am imposanten Mausoleum für Staatsgründer Kemal Atatürk einen Kranz niedergelegt hat, lässt der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan den deutschen Gast mit Salutschüssen begrüßen. Später vor der Presse preist der Gastgeber „unseren Freund und engen Verbündeten Olaf Scholz“. Erdogan wünscht sich engere Handelsbeziehungen (kein Wunder angesichts der tiefen türkischen Wirtschaftskrise mit 50 Prozent Inflation). Auch „menschliche Beziehungen“ seien wichtig, etwa für den Tourismus. Er preist die Verbundenheit beider Länder aus Gastarbeiterzeiten. Der 68-Jährige würdigt die türkischstämmigen Biontech-Gründer Özlem Türeci und Ugur Sahin, die einen Corona-Impfstoff entdeckten.
Wer Erdogans Schalmeienklänge vernimmt, muss sich mehrmals schütteln. Ist das jener autokratisch auftretende Präsident, der Ex-Außenminister Heiko Maas verfluchte, EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen machomäßig auf einem Nebensofa platzierte, Tausende Oppositionelle und Dutzende Deutsch-Türken ins Gefängnis werfen ließ? Lange lagen die Beziehungen zwischen Ankara und Berlin deshalb auf einem Nullpunkt. Angela Merkel war stets bemüht, bei Erdogan am Ball zu bleiben. Mit der EU verbindet ihn ein lukrativer Milliardenpakt. Die Türkei versorgt Millionen Syrien-Flüchtlinge im Inland, dafür fließt Geld aus Brüssel. Als ein deutscher Journalist sagt, Merkel habe deswegen vor der schlechten Menschenrechtslage in der Türkei immer wieder die Augen verschlossen, ist es nicht Erdogan, der aufbraust, sondern der Kanzler. „Sie tun meiner Vorgängerin völlig unrecht. Sie hat bei Menschenrechten nie die Augen zugedrückt. Das ist nicht wahr.“
Nun rücken wegen des Kriegs in der Ukraine Berlin und Ankara näher zusammen. Erdogan ist in die Vermittlerrolle zwischen Moskau und Kiew geschlüpft – und der Westen ist froh über jeden Strohhalm, der gereicht wird. Am Donnerstag kamen die Chefdiplomaten Dmytro Kuleba und Sergej Lawrow im südtürkischen Badeort Antalya zusammen. Die Gespräche blieben zwar weitgehend ergebnislos. Dass sie überhaupt stattfanden, wurde aber nicht nur von der Türkei selbst, sondern auch von westlichen Verbündeten als diplomatischer Erfolg gewertet.
Scholz dankt Erdogan dafür, dass er die Bosporus-Meerenge für Kriegsschiffe beider Kriegsparteien geschlossen hat – was Russlands Schwarzmeerflotte viel härter trifft. Doch Erdogan ist bemüht, keine Seite zu vergrätzen. Darauf weist er in der Pressekonferenz mit dem Kanzler explizit hin. In Russland hat er das Raketen-Abwehrsystem S-400 gekauft, die Ukraine erhält aus Ankara umgekehrt Kampfdrohnen, mit denen sie erfolgreich russische Panzer abschießt. In Syrien trafen die Türkei und Russland manches Mal mittelbar auf dem Schlachtfeld aufeinander. Die Türkei ist abhängig von Importen (Weizen, Gas) aus Russland. Der türkische Luftraum ist für russische Airlines weiter offen. Die Gemengelage ist also kompliziert.
Kein Wunder, dass Erdogan sich bislang nicht an den westlichen Sanktionen gegen Putin beteiligt. Auffällig ist deshalb am Montag in Ankara, dass Scholz öffentlich betont, er sei sich mit Erdogan vollkommen einig in der Verurteilung des gewaltsamen Vorgehens Russlands gegen die Ukraine. Unter vier Augen mag das so gewesen sein. Vor der Weltpresse sagt der türkische Präsident dazu nichts. Erdogan ist Putin in einem Punkt nicht unähnlich. Auch für ihn ist militärische Gewalt ein Mittel zum Zweck, siehe Syrien, Libyen. Weitere Waffenkäufe aus Russland schließt Erdogan grundsätzlich nicht aus. Es sei zu früh, um dazu eine Aussage zu treffen. Deutschland sorgte dafür für Schlagzeilen, weil Berlin sich entschieden hat, US-Tarnkappenbomber als Tornado-Nachfolger zu beschaffen. Scholz wird im Präsidentenpalast pathetisch. Es müsse sofort eine Waffenruhe und sichere Fluchtkorridore für Zivilisten geben. „Mit jedem Tag, mit jeder Bombe entfernt sich Russland mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft“, sagt der Kanzler. Und an Putin schickt er die Botschaft, dass Europa die Ukraine nicht im Stich lassen werde: „Ein Gerücht gehört beseitigt: Die Ukraine ist eine Nation, und sie steht zusammen. Egal, welche Sprache die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sprechen. Sie wollen ihr Land verteidigen, und das tun sie jeden Tag.“ Putin spricht dem Nachbarland jegliche Souveränität ab und behauptet, die Ukraine müsse entnazifiziert werden.
Zugleich betont Scholz, der Westen werde nicht über den Kopf der Ukraine Deals mit Putin machen. Die Sanktionen sollten Putin in einen Waffenstillstand zwingen. Dann müsse Kiew selbst in Friedensverhandlungen über die eigene Zukunft entscheiden. Scholz dankt Erdogan, dass er die Dialogkanäle zu beiden Ländern offenhalte. Dies sei wichtig und verdienstvoll. „Alles hilft, was jetzt Gespräche möglich macht.“
Darf sich hier auch Gerhard Schröder angesprochen fühlen? Man weiß es nicht. Der Altkanzler hatte mit seiner von Istanbul aus gestarteten Geheimmission nach Moskau Scholz überrumpelt. Seit dem Wochenende ist Schröder nach seinen Gesprächen mit Putin wieder zurück in Hannover. Ob Schröder bei seinem Duz-Freund etwas erreichen konnte, ist unbekannt. Mit Scholz soll es weder vor noch nach dem Moskau-Trip Kontakt gegeben haben. Schröder scheint auch keine Anstalten zu machen, wie von der SPD und Scholz gefordert, seine Aufsichtsratsmandate bei russischen Energiekonzernen aufzugeben. So bleibt alles kompliziert, auf den Kriegs- und den Nebenkriegsschauplätzen.