Analyse Schäubles rote Null

Berlin · Für Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble geht es in der Flüchtlingskrise längst nicht mehr darum, ob er die schwarze Null in seinem Etat bis 2017 halten kann. Er muss eine neue Schulden-Rutschbahn verhindern.

Eine vorausschauende Haushaltspolitik zeichnet sich dadurch aus, dass eine Regierung in guten Zeiten mehr investiert und darüber hinaus Geld für schlechte Zeiten zurücklegt. In solchen Zeiten soll sie dann nicht mit Ausgabenkürzungen oder Steuererhöhungen auf Mehrausgaben und Mindereinnahmen reagieren, sondern den Haushalt "atmen" lassen, also das Zurückgelegte verbrauchen und, sollte es nötig sein, vorübergehend höhere Defizite zulassen.

So weit die Theorie. Die Praxis sieht anders aus. Staaten häufen in der Regel Schulden an, statt sie abzubauen. Gute Zeiten werden in der Regel nicht genutzt, um für schlechtere vorzusorgen. Es gibt einen nie endenden Streit unter Ökonomen, ob Staaten nicht permanent ein gewisses Defizit fahren sollen, weil sie damit die Wirtschaft am Laufen halten - oder ob sie das nicht tun sollen, weil der steigende Schuldenstand den Ausgabenspielraum kommender Generationen einschränkt.

Nach jahrzehntelangem Defizitkurs in Deutschland hatte sich die Bundesregierung entschieden, es mit der anderen Variante, der nachhaltigen Haushaltspolitik, zu versuchen. Das war folgerichtig, weil das Land rapide altert und die künftigen Generationen, die die Schuldenlast von bereits zwei Billionen Euro tragen sollen, dramatisch ausdünnen. Bis Mitte des Jahres war die Koalition mit ihrer Politik gut auf Kurs. Im Januar konnte Wolfgang Schäuble (CDU) als erster Bundesfinanzminister seit Franz Josef Strauß (CSU), also seit 45 Jahren, bekannt geben, dass der Bund das Jahr 2014 ohne Neuverschuldung abgeschlossen hatte. Auch für die absehbare Zukunft wollte Schäuble die "schwarze Null" garantieren, ab 2015 sogar steigende Überschüsse einfahren. Doch dann kam die Flüchtlingswelle wie ein Tsunami auch über Schäuble.

Täglich werden zurzeit in Deutschland 8000 neue Asylbewerber registriert. Sie brauchen Unterkünfte, Essen, Kleidung. Nach der Erstversorgung brauchen sie Wohnungen, Sozialleistungen, Sprach- und Integrationskurse, Kita-, Schul-, Lehr- und Studienplätze. Das kostet viel Geld. Der Landkreistag hat ausgerechnet, was Bund, Länder und Gemeinden im laufenden Jahr bereits ausgeben müssen - und kam auf mindestens 15 Milliarden Euro. Das sei konservativ gerechnet, weil man nur von 800.000 registrierten Asylbewerbern im laufenden Jahr ausgegangen sei. Tatsächlich könnten es im Extremfall aber doppelt so viele werden. Im kommenden Jahr drohen aus den 15 Milliarden dann sogar 30 Milliarden Euro zu werden, denn der Flüchtlingsstrom reißt zurzeit noch nicht ab, und Hunderttausende wechseln ins Hartz-IV-System, das überwiegend der Bund bezahlt. Für die Bundesregierung bedeutet das, dass sie sich wohl bald von der "schwarzen Null" verabschieden muss, dass 2016 aus der schwarzen eine rote Null und im Wahljahr 2017 sogar eine tiefrote Null wird. Das heißt, der Bund wird wieder massiv Schulden aufnehmen müssen. Schäuble bereitet die Bürger auf diese Möglichkeit schon vor. Öffentlich spricht er nicht mehr davon, dass die Null 2016 sicher erreicht wird.

Die SPD hat den Sinn der Nullverschuldung ohnehin nie verstanden. Die Union tut sich zwar noch schwer damit zu akzeptieren, dass ihr wichtigstes Projekt dieser Wahlperiode wohl nicht durchzuhalten ist. "Wir verabschieden Ende November einen Haushalt 2016 ohne Neuverschuldung", sagt Eckhardt Rehberg, Chefhaushälter der Unionsfraktion. Aber die Einsicht, dass sich Steuererhöhungen oder spürbare Ausgabenkürzungen aus höchst politischen Gründen verbieten, ist schon da: Kein Bürger soll meinen, der Staat spare bei ihm, weil er mehr Geld für Flüchtlinge ausgeben muss. Das, so die Befürchtung, würde die gefährliche ausländerfeindliche Hetze im Land nur befeuern.

Noch kann der Bund von Überschüssen zehren. 2015 reichen sie aus, um die rund fünf Milliarden Euro Mehrkosten für Flüchtlinge zu finanzieren. Fünf weitere Milliarden, die der Bund noch übrig haben wird, will die Regierung per Nachtragshaushalt als Puffer ins kommende Jahr schieben. Intern erwartet Schäuble für 2016 bisher noch einen Überschuss von rund neun Milliarden Euro. Ob der für die Flüchtlinge ausreichen wird, ist fraglich. Denn ab 2016 zahlt der Bund den Kommunen pro Monat und Flüchtling 670 Euro. Eine Million Flüchtlinge kosten den Bund mit allen Extras zehn Milliarden Euro - die Null wäre dahin. Hinzu kommen aber noch deutlich steigende Hartz-IV-, Integrations-, Entwicklungshilfe- und andere außenpolitisch motivierte Ausgaben, etwa für die Türkei oder die Länder der Balkanroute.

Für Schäuble geht es jetzt längst nicht mehr nur um die Null, sondern darum, eine Neuverschuldungs-Rutschbahn zu vermeiden. Denn der Koalitionspartner ruft schon laut nach höherer Neuverschuldung. "Ich war noch nie ein Fan der schwarzen Null. Für mich hat sie keine Priorität, und das gilt ganz besonders in Zeiten dieser Flüchtlingskrise", sagt SPD-Vize Ralf Stegner. "Wir müssen unbedingt den Eindruck vermeiden, dass wir anderen etwas abziehen, weil wir wegen der Flüchtlinge zusätzliche Aufwendungen haben."

Wenn das Schulden-Fass aber erst aufgemacht ist, wollen sich viele bedienen - eine Verbindung zur Flüchtlingskrise lässt sich für viele Mehrausgaben herstellen. Und schon rufen die ersten Ländervertreter, dass ein Aussetzen der Schuldenbremse für sie kein Tabu sein dürfe. Die Alternative: Der Bund zahlt den Ländern noch mehr als bisher vereinbart. Stegner formuliert es so: "Die Flüchtlingskrise ist eine besondere gesamtstaatliche Herausforderung. Sie verlangt eine neue Übereinkunft zwischen Bund und Ländern im Stabilitätsrat, wie man damit finanziell umgeht, damit alle Länder die Schuldenbremse ab 2020 einhalten können."

(mar)
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