Kigali Ruanda – das Land der Waisenkinder

Kigali · Nach dem Völkermord vor 20 Jahren mussten Hunderttausende in dem ostafrikanischen Land ohne ihre Eltern aufwachsen, auch die nächste Generation leidet noch unter den Nachwirkungen der Massaker. Ein Besuch bei den Kindern und ihren Helfern.

Der 22-jährige Afrikaner Dieudonné Gakire hat ein Buch geschrieben – über den Völkermord in seiner Heimat Ruanda. Es ist sein Weg, mit dem Trauma fertig zu werden: Gakire verlor bei den Massakern 1994 seinen älteren Bruder und musste mitansehen, wie Nachbarn seinen Großvater fesselten und folterten.

Später, als der junge Mann im Berufsbildungszentrum der deutschen Hilfsorganisation "SOS-Kinderdörfer weltweit" in der Hauptstadt Kigali als Elektrotechniker geschult wurde, lernte der Angehörige der Gruppe der Tutsi Mitschüler kennen, die ein ähnliches Schicksal hatten: Zwölf bewegende Erlebnisberichte nahm er in sein Buch auf, darunter die schrecklichen Erfahrungen einer 13-Jährigen, die gleich zweimal – unter blutenden Leichen verborgen – der Ermordung durch Hutu-Milizen entkommen war; ihre Familie überlebte die Massaker nicht.

Ruanda ist eines der kleinsten Länder Afrikas und das am dichtesten besiedelte Land des Kontinents. Seine Geschichte ist von wiederkehrenden Kämpfen zwischen den Gruppen der Hutu und der Tutsi bestimmt. Die Rivalität gipfelte 1994 in einem Völkermord, dem bis zu eine Million Menschen zum Opfer fielen. Der Genozid, die massenhafte Vertreibung und die spätere Rückkehr von etwa 3,8 Millionen Flüchtlingen haben Ruandas Entwicklung um Jahre zurückgeworfen und die sozialen Strukturen geschwächt.

Auch wenn der ruandische Staat die Versöhnung zwischen den Hutu und Tutsi in den Mittelpunkt stellt und dabei zunehmend Erfolge hat, hat der Genozid bis heute dramatische Auswirkungen auf das Land: Nach Angaben des Kinderhilfswerks Unicef gibt es in Ruanda 28 000 Kinderhaushalte; mehr als 100 000 Jungen und Mädchen wachsen ohne Eltern auf. Andere Quellen sprechen sogar von 300 000 bis 400 000 alleinlebenden Minderjährigen in einem Land, das insgesamt nur knapp zwölf Millionen Einwohner hat.

Die Münchner Organisation "SOS Kinderdörfer weltweit" kümmert sich vorbildlich um diese verlorenen Seelen: Mehr als 4500 Mädchen und Jungen werden zurzeit in vier über das Land verteilten Kinderdörfern, sechs Jugendeinrichtungen, vier Kindergärten, vier Schulen, fünf Sozialzentren, zwei Berufsbildungsstätten und zwei Krankenstationen liebevoll betreut.

Eine "Mutter" und eine "Tante" sorgen rund um die Uhr für jeweils zehn Waisenkinder und bieten ihnen eine neue Familie. Schwere Fälle sind darunter, berichtet der Direktor der SOS-Kinderdörfer in Ruanda, Alfred Munyentwari: "Unmittelbar nach den Massakern haben wir einen Jungen aufgenommen, der sich damit brüstete, gemeinsam mit seinem Vater unzählige Tutsis umgebracht zu haben – eine große pädagogische Herausforderung, mussten wir doch akzeptieren, dass der Siebenjährige selbst nur ein Opfer gewesen ist."

Dieudonné Gakire gehört zu den jungen Ruandern, die ein neues, friedliches Land aufbauen wollen: "Wir unterscheiden nicht mehr in Hutu oder Tutsi. So etwas darf sich nie mehr wiederholen", betont er. Sein Buch "Ein träumendes Kind", das in Englisch, Französisch und in der Landessprache Kinyarwanda erschienen ist, soll dazu eine Mahnung sein. Gakire besuchte vorher auch Gefängnisse und sprach mit den Mördern. "Einer hat mitleidlos 100 Menschen getötet. Ich hätte mir vorher gar nicht vorstellen können, dass so etwas möglich ist."

Mit seinem Buch wolle er den vielen ruandischen Waisenkindern eine Stimme geben, sagt Gakire. "Auch die Kinder der Mörder haben keine Väter mehr, weil sie jetzt lebenslänglich in Haft sitzen."

Der Völkermord von 1994 hat bis heute Nachwirkungen: In den SOS-Dörfern stößt man jetzt auf die Generation, deren Mütter oder Väter damals als Kinder Morde, Misshandlungen und Vergewaltigungen miterleben mussten und deshalb teils psychisch schwer erkrankt sind. Einige begingen deswegen später sogar Selbstmord, oder sie starben an Aids – als Opfer gezielter Massenvergewaltigungen und Infektionen durch HIV-positive Hutu-Kämpfer.

Emma Marie (63) ist eine der Betreuerinnen im SOS-Kinderdorf in Kigali, die diese seelischen Wunden mit viel Liebe zu heilen versuchen. "Sie sind wie meine eigenen Kinder", sagt sie zu den zehn Mädchen und Jungen im Alter von sieben bis 15 Jahren, mit denen sie zurzeit in einem der Gruppenhäuser lebt. Insgesamt 53 Kinder habe sie seit 1987 großgezogen, zählt sie auf und setzt stolz hinzu: "Ich habe auch schon 18 Enkelkinder."

Als 1994 plötzlich Leuchtspurgeschosse über das in eine grüne Gartenlandschaft eingebettete Kinderdorf hinwegflogen und sie Hals über Kopf mit den Kindern in ein nahes Krankenhaus flüchten musste, das von Blauhelm-Soldaten der Uno-Schutztruppe bewacht war, habe sie keine Hoffnung mehr gehabt, erinnert sich Emma Marie: "Es gab dort kaum etwas zu essen und zu trinken. Vor dem Hospital schlugen immer wieder Granaten ein. Wir haben täglich auf den Tod gewartet."

Doch sie und ihre Kinder überlebten die um das Krankenhaus herum stattfindenden Schießereien und Massaker; nach drei Monaten konnte sie in das verwüstete Kinderdorf zurückkehren. Emma Marie ist optimistisch: "Ich glaube nicht, dass sich das wiederholt. Ruanda ist heute auf dem richtigen Weg."

Davon geht auch Eric Ndagijimana aus, der damals im Haus Nummer sechs des Kinderdorfs lebte, weil seine Mutter ihn nicht ernähren konnte. Mit seiner Gruppe musste er ebenfalls in das Krankenhaus fliehen. Heute ist der 30-Jährige Rechtsberater des ruandischen Parlaments und hat einen kleinen Sohn; sein großes Hobby ist der Fußball. "Ich habe später meine Mutter gefragt, ob ich Hutu oder Tutsi bin. Ich weiß es bis heute nicht. Das ist nicht wichtig, hat sie mir lediglich geantwortet. Wir seien doch alle Ruander."

Das SOS-Kinderdorf in Byumba, in 2400 Meter Höhe im Norden des Landes gelegen, wurde 1995 im Rahmen eines Notprogramms wegen des Genozids gegründet, um schnell einem Teil der Waisenkinder in der Region helfen zu können. 15 "Mütter" und neun "Tanten" kümmern sich hier um 134 Kinder. "Ich stehe um fünf Uhr morgens auf, mache das Frühstück und sorge dafür, dass die Kinder pünktlich zur Schule kommen. Dann wasche und putze ich, bewirtschafte unseren kleinen Garten und helfe den Kindern anschließend nachmittags bei den Hausaufgaben", schildert SOS-Mutter Charlotte, eine frühere Grundschullehrerin, ihren Tagesablauf. "Die Kleinen müssen nach Abendessen und Gebet pünktlich um acht Uhr ins Bett, die Großen um zehn." Einen Tag in der Woche habe sie frei, die "Tante" übernehme dann ihre Aufgaben. Es sei ihr Traumberuf: "Ich liebe Kinder."

Einer ihrer Schützlinge ist die 13-jährige Immaculée – auch ihre leibliche Mutter ist psychisch krank und musste sie ins Kinderdorf geben. Das ernsthafte Mädchen weiß genau, was es werden will: "Gesundheits- oder Sozialministerin. Denn ich will schwachen Mitmenschen helfen, ein besseres Leben führen zu können."

(RP)
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