Hannover/Berlin Rot-Grün gewinnt Niedersachsen –Röslers FDP überraschend stark

Hannover/Berlin · Nach einem Kopf-an-Kopf-Rennen am Wahlabend liegt Rot-Grün hauchdünn vor Schwarz-Gelb. SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil könnte neuer Ministerpräsident werden. FDP bei zehn Prozent.

Herzschlagfinale in Niedersachsen: Nach einer Zitterpartie am Wahlabend wird es zu einem Regierungswechsel in Hannover kommen. Nach dem vorläufigen amtlichen Endergebnis liegt Rot-Grün ganz knapp vorn. Neuer Ministerpräsident dürfte der SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil werden. Er wird Amtsinhaber David McAllister (CDU) ablösen. Im Landtag hat das rot-grüne Regierungsbündnis einen Vorsprung von einem Mandat.

Schuld am Regierungswechsel ist die massive FDP-Zweistimmenkampagne zulasten der Union. Sie bescherte der CDU eines der schlechtesten Ergebnisse. Die Liberalen triumphieren mit dem besten Wert bei einer Landtagswahl in Niedersachsen. Das verschafft auch dem angeschlagenen Bundesvorsitzenden Philipp Rösler wieder Luft. Die SPD mit Herausforderer Stephan Weil legt leicht zu. Die Linke fliegt aus dem Landtag, auch die Piratenpartei scheitert klar an der Fünf-Prozent-Hürde. Die Wahlbeteiligung stieg auf 60 Prozent.

Von einem Sieg in Niedersachsen hatten sich die Parteien Rückenwind für die Bundestagswahl im Herbst erwartet. Die Abstimmung im zweitgrößten Flächenland mit 6,1 Millionen Wahlberechtigten gilt als wichtiger Stimmungstest. Vor dem Bundestag wird nur noch in Bayern ein neuer Landtag gewählt. Stärkste Partei wird die CDU mit 36,0 Prozent, gefolgt von der SPD, die auf knapp 32,6 Prozent kommt. Die Grünen erzielen fast 13,7 Prozent, die FDP erreicht 9,9, die Linke bleibt bei 3,1 Prozent. Auch die Piraten verpassen mit 2,1 Prozent den Einzug in den Landtag.

Mit Überhang- und Ausgleichsmandaten ergab sich damit folgende Sitzverteilung: Die CDU erreicht 54 Sitze, die SPD kommt auf 49 Mandate. Die Grünen sind mit 20 Sitzen im neuen Landtag vertreten, die FDP mit 14. Das bedeutet einen Vorsprung 69 zu 68 Mandaten. McAllister hatte die Landesregierung 2010 nach der Wahl seines Vorgängers Christian Wulff zum Bundespräsidenten übernommen.

Der niedersächsische SPD-Spitzenkandidat Stephan Weil will auch bei nur einem Mandat Mehrheit eine rot-grüne Koalition in Niedersachsen bilden. "Bei dem Stand der Dinge habe ich das auch vor", sagte er am Sonntagabend in der ARD. Schwarz-Gelb lag in den Umfragen vor der Wahl lange Zeit hinter Rot-Grün. Dann war der Abstand immer knapper geworden.

Die FDP mit Umweltminister Stefan Birkner an der Spitze warb im Wahlkampf massiv um Zweitstimmen von CDU-Wählern – laut Forschungsgruppe Wahlen erfolgreich. Diese sprach von einem "Last-Minute-Transfer im schwarz-gelben Lager": 80 Prozent der aktuellen FDP-Wähler wählen eigentlich CDU. Am Ende verteidigt die FDP nach Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen den dritten Landtag in Folge. Das sei auch ein Erfolg Röslers, sagte Generalsekretär Patrick Döring. Er sei der richtige Vorsitzende. Schleswig-Holsteins Fraktionschef Wolfgang Kubicki, bislang einer der schärfsten Kritiker Röslers, betonte, nach dem "glorreichen Sieg" könne die FDP-Spitze in Harmonie über die Aufstellung für die Bundestagswahl im Herbst sprechen. Er sprach sich auch gegen eine Vorverlegung des für den Mai geplanten FDP-Parteitags aus, die Fraktionschef Rainer Brüderle vor der Wahl gefordert hatte. Rösler sagte: "Das Rennen hat jetzt erst angefangen. Die Freien Demokraten werden jetzt loslegen."

Der Niedersachsen-SPD fehlte der Rückenwind aus Berlin, wo Kanzlerkandidat Steinbrück seit Wochen wegen seiner Nebenverdienste und seiner Äußerungen zum Kanzlergehalt in der Kritik steht und in den Umfragen abgestürzt ist. Steinbrück räumte ein, dass es aus Berlin keine Unterstützung für Hannover gegeben habe. Gleichwohl stärkte Parteichef Sigmar Gabriel ihm den Rücken: "Was wären wir für ein jämmerlicher Haufen, wenn wir gleich den Kandidaten auswechseln würden, wenn der Wind mal von vorne kommt." Die Grünen fuhren ihr mit Abstand bestes Ergebnis bei einer Landtagswahl in Niedersachsen ein.

Trotz des guten Abschneidens der FDP in Niedersachsen legt der Düsseldorfer FDP-Politiker Gerhard Papke Parteichef Rösler den Rücktritt nahe. Der Wahlerfolg in Niedersachsen sei ebenso wie zuvor in Schleswig-Holstein und NRW nicht mit, sondern gegen den Bundestrend errungen worden. "Jede andere Interpretation wäre Augenwischerei", sagte Papke unserer Zeitung. Das Ergebnis in Niedersachsen gebe Rösler "die Chance, seine Rolle an der Spitze der FDP zu überdenken". Rösler sei ein "gleichermaßen intelligenter wie netter junger Mann, aber die Konzentration wichtigster Führungsämter auf seine Person hat der bundespolitischen Reputation der FDP nicht geholfen". Deshalb müsse die FDP "eine erkennbar veränderte und breite personelle Formation finden", wenn sie bei der Bundestagswahl bestehen wolle.

Das Abschneiden der FDP in Niedersachsen wirkt sich nach Einschätzung von Entwicklungsminister Dirk Niebel (FDP) auf das Auftreten aller Liberalen aus: "Das ist ein tolles Ergebnis für die FDP, das unseren Mitgliedern ihre Würde zurückgibt", sagte Niebel unserer Zeitung. Allerdings bleibe es bei seiner Rösler-kritischen Analyse in seiner Dreikönigsrede. Der Vorsitzende der Jungliberalen, Lasse Becker, hat das FDP-Präsidiumsmitglied nach der Kritik zum Rückzug aus der Parteispitze aufgefordert. "Wenn ein einzelnes Präsidiumsmitglied und Kabinettsmitglied der Partei den eigenen Leuten so kurz vor den Wahlen Knüppel in die Beine wirft, muss das Konsequenzen haben. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Parteiführung künftig enger mit Dirk Niebel zusammenarbeiten wird", sagte Becker.

Leitartikel Seite A 2

Politik Seiten A 2/3

(RP)
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