Buchbesprechung Das Dilemma der Revolution

Düsseldorf · Obwohl Massenproteste und Umwälzungen die Geschichte prägen, kommen sie selten vor – zur Freude der Diktatoren.

 Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor während der friedlichen Revolution in der DDR.

Menschenmassen auf und vor der Berliner Mauer am Brandenburger Tor während der friedlichen Revolution in der DDR.

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Die Revolution findet nicht statt. So könnte man das Fazit dieses faszinierenden Buchs des Ökonomen Thomas Apolte aus Münster zusammenfassen. Sowohl in kleinen Gruppen als auch bei Massenprotesten ist es für den Einzelnen viel vernünftiger, die anderen die Risiken einer Revolution eingehen zu lassen als sich selbst zu beteiligen und im schlimmsten Fall sein Leben zu verlieren. Verhalten sich alle so, lassen sie lieber die Finger von einem Umsturz. Selbst wenn eine Revolution eine deutliche Verbesserung der Lebensverhältnisse herbeiführt, so ist es für den Einzelnen rationaler, sich passiv zu verhalten. Der Professor für Politische Ökonomie nennt dies „das Dilemma der Revolution“. Und er fügt einen Satz hinzu, der Weltverbesserer und Revolutionsanhänger gleichermaßen ernüchtern dürfte: „Das Dilemma der Revolution ist die Machtbasis des Diktators.“

So logisch der Gedankengang Apoltes ist, so muss er doch zugestehen, dass Massenproteste und Revolutionen stattfinden. Nicht zuletzt die großen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa 1989, die der Autor minutiös beschreibt, haben fast friedlich einen unerwarteten Wechsel von der Diktatur zur Demokratie ermöglicht. Der Autor begegnet dem Einwand zunächst mit einem Blick in die Statistik. Dort haben Politikwissenschaftler alle Machtwechsel in 188 Ländern von 1875 bis 2004 untersucht, insgesamt 3025 Fälle. Massenproteste führten nur bei 1,7 Prozent dieser Ereignisse zu einem Austausch der politischen Führung. Nimmt man nur die irregulären Machtwechsel, also solche, die nicht demokratisch oder durch den freiwilligen Verzicht oder den Tod des Machtinhabers zustande kamen, sind es zwar 7,2 Prozent – aber immer noch verschwindend wenig.

Um die verbliebenen Revolutionen und Massenproteste zu erklären, verfeinert Apolte seine Analyse. Aber er bleibt seinem Ansatz treu. Es sind stets einzelne Individuen, die entscheiden, nicht die Gruppe oder die Masse als solches. Mit raffinierten Zahlenbeispielen und Modellen der Spieltheorie erkundet Apolte dann den Einfluss der Bedürfnissen von Menschen, sich politisch auszudrücken, von Zufälligkeiten oder wiederkehrenden Mustern etwa bei Versammlungen, die so etwas wie Massenproteste auslösen können. Mit seinen Ansätzen, die vom Leser lediglich die Bereitschaft verlangen, konzentriert zu lesen, gelingt es ihm, Revolutionen wie die Französische oder die Russische zu erklären. Oder warum die Mehrheit der Deutschen ihrem „Führer“ Adolf Hitler so bereitwillig bis zum Schluss ergeben blieben.

Gleichwohl bleibt der Grundton skeptisch. Revolutionen sind auch bei großer Unterdrückung und Korruption der Diktatoren keineswegs zwingend. Hier taucht eine Schwachstelle der Analyse auf. Denn Apolte gibt zu, dass viele Massenproteste scheitern und sie deshalb in der oben genannten Statistik gar nicht auftauchen. Wenn dem so ist, warum versuchen es die Menschen trotzdem immer wieder, obwohl ihre Belohnung so gering ausfällt?

  Thomas Apolte: Der Mythos der Revolution. Springer, 2019, 249 S., 19,90 Euro

Thomas Apolte: Der Mythos der Revolution. Springer, 2019, 249 S., 19,90 Euro

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Das schmälert aber nicht die Leistung des Buches. Es ist Pflichtlektüre für alle, die sich mit dem Phänomen Revolution auseinandersetzen. Leider hat der Verlag Springer Nature das Buch technisch sehr einfach gestaltet – ohne professionellen Drucksatz. Das Buch hätte mehr verdient. Es ist ein Meisterwerk.

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