Analyse Regierungsbildung in der Patt-Republik

Gastbeitrag Frank-Walter Steinmeier könnte als neuer Bundespräsident zum Kanzlermacher bei politisch instabilen Mehrheiten werden. Sogar eine Neuwahl oder eine Minderheitsregierung sind möglich.

Rheinland-Pfalz schickt 31 Delegierte nach Berlin. Die Wahlfrauen und Wahlmänner aus sechs Parteien sind bei der Wahl des neuen Bundespräsidenten am Sonntag dabei. Die Steinmeier-Wahl wird überraschungsfrei. Ganz anders sieht es bei der Wahl des Bundeskanzlers aus. Frank-Walter Steinmeier kann daran durchaus maßgeblich beteiligt sein. Am Abend des 24. September werden wir zwar wissen, wie die Deutschen gewählt haben. Allerdings heißt das noch lange nicht, dass wir auch wissen, wer der nächste Bundeskanzler sein wird. Gut möglich, dass jenseits einer großen Koalition - geführt von schwarz oder rot - niemand über eine Kanzler-Mehrheit in einem Sechs-Parteien-Parlament verfügt. Wer hätte von den Wahlsiegern genügend Autorität, um originelle neue Koalitionsbildungen anzustoßen?

Die bisherige Bundesregierung bliebe auch nach der Konstituierung des 19. Deutschen Bundestags geschäftsführend im Amt - zeitlich unbegrenzt. Dann schlägt die Stunde des Bundespräsidenten. Er verfügt als Staatsoberhaupt über harte Reservemacht für politische Krisensituationen. Der Bundespräsident könnte zum Kanzlermacher bei politisch instabilen Mehrheiten werden. Seine "Hard Power" findet sich in Artikel 63 des Grundgesetzes. Er hat das Vorschlagsrecht für die Kanzlerwahl im ersten Wahlgang. Er ist verfassungsrechtlich weder personell noch zeitlich an die Person des vermeintlichen Wahlsiegers gebunden.

Auch nach weiteren erfolglosen Wahlgängen ohne absolute Mehrheit - nach Ablauf der 14-Tages-Frist - kann der Bundespräsident entscheiden, ob er einen mit einfacher Mehrheit gewählten Minderheitskanzler benennt oder den Bundestag auflöst. Bundespräsident Roman Herzog spielte beispielsweise mit dem Gedanken, sein Vorschlagsrecht 1998 offensiv für einen unverbrauchten Alternativkandidaten zu nutzen, falls eine von der PDS (Linke) geduldete rot-grüne Mehrheit zustande gekommen wäre.

In der jetzigen Patt-Republik mit einem asymmetrischen changierenden Sechs-Parteien-System erhält der Bundespräsidenten als Ausweg-Stifter somit neue Möglichkeiten. Es könnte zum präsidentiellen Entscheidungshandeln in Krisenzeiten kommen. Er wird nur einen "Kanzlerkandidaten" vorschlagen, bei dem er durch nicht-öffentliche Vorsondierungen sicher ist, dass er eine Mehrheit organisieren kann. Der Kandidat braucht kein Mandat im Bundestag, und er muss keinesfalls der stärksten Fraktion angehören.

Auch eine Minderheitsregierung unter Führung der SPD - eventuell durchaus mit einem kleineren Partner bleibt als Option. Für eine Minderheitsregierung müsste der Bundespräsident die Schirmherrschaft übernehmen. Ob er eine Minderheitsregierung ernennt oder Neuwahlen ansetzt, bleibt seine Entscheidung. Martin Schulz könnte von der Linken toleriert, aber nicht mitgewählt werden. Es käme einer kommunikativen Meisterleistung gleich, so eine Minderheitsregierung als Ausweg aus einer Regierungskrise zu präsentieren. Schulz müsste in so einem Modell präsidial ad hoc Themen-Mehrheiten im parlamentarischen System organisieren. In Düsseldorf funktionierte dies über zwei Jahre lang. Im Bund könnte das frühzeitiger beendet sein. Über eine staatstragend-fingierte Vertrauensfrage könnte dann die SPD erneut den Bundestag vorzeitig auflösen lassen, Neuwahlen erzwingen und aus dem Kanzleramt heraus Wahlkampf betreiben. Die SPD ginge vermutlich aus so einer Konstellation stärker hervor als nach einer Regierungsbeteiligung in einer großen Koalition.

Bundespräsident Steinmeier ist parteipolitisch erfahren, um in instabilen Zeiten eines Vielparteien-Parlaments neue Formeln der Macht mit zu entwickeln. Die Bundesversammlung am Sonntag strahlt also deutlich in Richtung Bundestagswahl.

Unser Autor ist Politikwissenschafts-Professor an der Universität Duisburg-Essen und analysiert Wahlen, etwa für WDR und ZDF.

(RP)
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