Streit um Ganztag Bund erhöht Druck auf Länder

Exklusiv | Berlin · Die Bundesregierung will einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung schaffen. Doch die Länder verlangen mehr finanzielle Unterstützung des Bundes. Jetzt wird die Zeit knapp, um noch zu einer Lösung zu finden.

 Unterricht an einer Grundschule in Essen (Archiv).

Unterricht an einer Grundschule in Essen (Archiv).

Foto: dpa/Marcel Kusch

Die Bundesregierung hat den Druck auf die Länder erhöht, im Streit um den geplanten Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter eine Lösung zu finden. Bundesfamilienministerin Christine Lambrecht (SPD) sagte: „Es wäre ein wichtiges Signal und ein starkes Bekenntnis zu einem modernen, familienfreundlichen Land, wenn der Vermittlungsausschuss den Weg für einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung im Grundschulalter freimacht.“

Mehrere Länder, darunter Baden-Württemberg, Hessen und Niedersachsen, hatten sich Ende Juni gegen das von Bundesregierung und Bundestag verabschiedete Gesetz gesperrt. Sie verlangen mehr Unterstützung des Bundes, insbesondere bei der Finanzierung von Personal- und Betriebskosten. Jahrelang hatten SPD und Union über das Thema Ganztag gestritten, zudem sind die Voraussetzungen in den Bundesländern sehr unterschiedlich. Insbesondere westdeutsche Flächenländer haben großen Aufholbedarf beim Ausbau von Ganztagsangeboten an Grundschulen.  

Winfried Kretschmann (Grüne), Ministerpräsident von Baden-Württemberg, bildet die Speerspitze des Widerstandes gegen das bisherige Gesetz.  „Wir müssen beim Ausbau der Ganztagsplätze richtig Gas geben“, sagte Kretschmann Ende Juli der Deutschen Presse-Agentur. „Aber wenn der Bund einen Rechtsanspruch formuliert, muss er sich auch um die Frage kümmern, wer die Lasten dieses Rechtsanspruchs trägt, also wer zahlt.“ Ein Rechtsanspruch sei einklagbar, der müsse deshalb finanziell unterfüttert sein. Sonst dürfe man ihn nicht in die Welt setzen, so Kretschmann.

Bislang sieht das Gesetz vor, dass ab 2026 alle Kinder im Grundschulalter einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung haben sollen, wobei ein stufenweiser Ausbau vorgesehen ist. Die Länder hatten das Inkrafttreten bereits um ein Jahr nach hinten verhandelt. Außerdem gibt der Bund 3,5 Milliarden Euro für Investitionen und jährlich knapp eine weitere Milliarde für Betriebskosten. Einige Länder wie Baden-Württemberg rechnen jedoch mit deutlich höheren Kosten. Und auch aus dem Osten kommt Kritik. „In Sachsen ist der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung praktisch schon Realität“, teilte ein Sprecher von Kultusminister Christian Piwarz (CDU) mit. „Wir benötigen weniger Ausbau in Quantität, sondern wir wollen mehr Ausbau in die Qualität schon bestehender Ganztagsplätze. So wie das Gesetz derzeit jedoch aussieht, wären ostdeutsche Länder benachteiligt.“

Das Problem beim Verfahren: Um den Rechtsanspruch überhaupt noch retten zu können, muss eine Lösung bis zum 7. September stehen. Dann tagt der Bundestag zum letzten Mal in dieser Legislaturperiode. Der Vermittlungsausschuss, der zwischen Bundesrat und Bundestag zu einem Kompromiss finden soll, muss spätestens am 3. September tagen und das fertige Konzept an den Bundestag zurückspielen. Stieße das bei den Koalitionsfraktionen auf Zustimmung, könnte der Bundesrat am 17. September einen Haken dranmachen. Gelingt das nicht, wäre das Gesetz in dieser Wahlperiode gescheitert.

Für Ministerin Lambrecht, deren Ressort nur noch dieses Projekt auf der Liste hat, wäre das kein gutes Signal – erst recht nicht im Wahlkampf. „Viele Eltern wünschen sich gute Ganztagsbetreuungsangebote für Ihre Kinder. Die Corona-Pandemie hat nochmal deutlich gezeigt, wie entscheidend eine verlässliche Kinderbetreuung ist, damit Familie und Beruf gut miteinander vereinbar sind“, sagte sie. „Ganztagsbetreuung bedeutet gute Bildungschancen für alle Kinder und ermöglicht gleichzeitig Eltern die eigene berufliche Tätigkeit und Entwicklung. Der Rechtsanspruch auf Ganztag im Grundschulalter ist eine gute Investition in unsere gemeinsame Zukunft“, so Lambrecht. Sie bezeichnete das Angebot des Bundes als „großzügig“ und fügte hinzu: „Damit haben wir als Bundesregierung gezeigt, dass es uns ernst ist mit dem Rechtsanspruch, denn wir sind überzeugt davon, dass er gut ist für die Kinder im die Familien, für ein funktionierendes Wirtschafts- und Arbeitsleben, für unser Land.“ 

In den Koalitionsfraktionen von Union und SPD setzen zumindest die Familienpolitiker auch auf das Projekt. Unionsfraktionsvizechefin Nadine Schön (CDU) sagte: „Ich erwarte nun, dass beide Seiten im Vermittlungsausschuss schnell zu einem guten Kompromiss finden und die Länder keine überbordenden Forderungen stellen.“ Sie kenne keine Kommune und kein Land, die es sich im Jahr 2021 noch leisten könnten, kein ganztägiges Betreuungsangebot für Kinder anzubieten, sagte Schön. „Die Eltern erwarten zurecht, dass die Politik hier liefert“, so die CDU-Familienpolitikerin.

Ihr Fachkollege, SPD-Fraktionsvize Oliver Kaczmarek, betonte die Bedeutung des Vorhabens und nahm auch Unionskanzlerkandidat und NRW-Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) in die Pflicht. „Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ist ein zentrales Vorhaben aus dem Koalitionsvertrag. Ich erwarte, dass auch der CDU-Vorsitzende und Ministerpräsident von NRW, Armin Laschet, seinen Beitrag leistet, damit eine Lösung noch in dieser Wahlperiode möglich wird.“ Im Bundesrat hatte NRW für das Gesetz gestimmt.

Wann der Vermittlungsausschuss zusammenkommen wird, ist offen. Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD), die für die Länderseite an der Spitze des Gremiums sitzt, sagte: „Der Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung ist wichtig.“ Mecklenburg-Vorpommern habe bereits dem Gesetzesvorhaben im Bundesrat zugestimmt. „Es ist schade, dass dem nicht alle Länder zustimmen konnten. Daher ist es wichtig im Vermittlungsverfahren eine Lösung zu finden.“ Sie schlug vor: „Unabhängig von der Bundestagswahl sollte jetzt zügig eine Arbeitsgruppe eingerichtet werden, um zu einem guten Ergebnis zu kommen.“

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