Analyse Erdogans Großmachtpläne

Istanbul · Der Sieger der Präsidentenwahl in der Türkei hat große Pläne für sein Land: Es soll die führende Macht Vorderasiens werden. Dass Erdogan sich dabei von einem EU-Beitritt immer weiter entfernt, stört ihn nicht.

Recep Tayyip Erdogan: Das ist der türkische Staatspräsident
17 Bilder

Das ist Recep Tayyip Erdogan

17 Bilder
Foto: AP

Nach der gewonnenen Wahl will Recep Tayyip Erdogan im politischen Alltag der Türkei nicht nur Präsident, sondern auch oberster Chef der Regierungspartei AKP und Über-Regierungschef in Personalunion sein. Das ist schlecht für die türkische Demokratie, in der wichtige rechtsstaatliche Kontrollmechanismen fehlen.

Die Gefahr besteht, dass Erdogan das ausnützt. Er könnte einen ihm genehmen Ministerpräsidenten einsetzen, der zum nächstmöglichen Termin Neuwahlen anstrebt. Die könnten dann der AKP womöglich eine verfassungsgebende Mehrheit sichern. Erdogan würde die Verfassung auf sich zuschneiden, indem er dem Präsidenten eine ähnliche Machtstellung gewährt, wie sie derzeit in den Vereinigten Staaten existiert. Nur würde im Falle der Türkei ein starkes Gegengewicht fehlen. Denn das Parlament in Ankara wäre eine Marionette in der Hand Erdogans - ganz anders als der oft widerspenstige amerikanische Kongress.

Erdogan strebt noch mehr an: Er will die Türkei zur Vormacht des Nahen Ostens machen. Die Schwächung des syrischen Diktators Baschar al Assad gehört in diese Strategie wie auch die moralische und materielle Unterstützung der Palästinenser sowie der Ausgleich mit dem Iran. Für einen Nato-Partner und einen Beitrittskandidaten zur Europäischen Union sind das gewagte Alleingänge. Aber Erdogan geht seinen eigenen Weg. Längst sind die Befürworter eines Beitritts zur EU in Erdogans Mannschaft in der Defensive, während die Skeptiker an Boden gewinnen.

Bislang stützte vor allem der ökonomische Erfolg das System Erdogan. Bei Wachstumsraten in der Vergangenheit von bis zu neun Prozent jährlich ist erstmals eine konservative kleinbürgerliche Schicht entstanden, die den Weg aus der Armut gefunden hat. Die stützt noch jetzt bedingungslos den bisweilen selbstherrlichen Autokraten, der auf Pressefreiheit und Bürgerrechte wenig Rücksicht nimmt.

Auch die vielen Korruptionsskandale und das verheerende Krisenmanagement nach dem Grubenunglück im westtürkischen Soma, wo 301 Bergarbeiter ums Leben kamen, hat Erdogan letztlich nicht geschadet. Denn die Türken verbinden mit seiner Herrschaft immer noch steigenden Wohlstand und eine weniger rigide Handhabung des Kopftuchverbots und der strikten Trennung von Religion und Staat.

Gezügelt werden könnte Erdogan ausgerechnet von einem alten Weggenossen: dem bisherigen Staatschef Abdullah Gül. Die Türkei dürfte für Erdogan als Präsident nicht so leicht regierbar sein, wie er sich das vorgestellt hat. In Ankara stehen turbulente Zeiten bevor. Gül kündigte gestern seine Rückkehr in die Partei- und Tagespolitik an. Ähnlich wie in Russland bei Wladimir Putin und Dmitri Medwedew könnten Präsident und Ministerpräsident also einen Ämtertausch vollziehen. Ob Erdogan einen so mächtigen und selbstbewussten Mann wie Gül als Regierungschef einsetzen will, ist aber ungewiss: Der neue Präsident ist Widerworte nicht gewohnt.

Der Parteitag zur Neuwahl des AKP-Chefs wurde auf den 27. August terminiert, was Güls Kandidatur unmöglich machen würde. Beobachter in Ankara sprachen von einem Machtkampf in der AKP. Das ist möglicherweise etwas hoch gegriffen, denn auch Gül hat kein Interesse daran, die Partei zu beschädigen. Aber er zeigt doch den Willen, Erdogan an der Errichtung eines "Ein-Mann-Systems" in der Türkei zu hindern. Viele Erdogan-Gegner atmeten deshalb gestern auf, als Gül seine Entscheidung zur Rückkehr in die Tagespolitik bekannt gab. Selbst die Börse machte einen Sprung nach oben.

Anders als bei der russischen Rochade ist Gül nicht von Erdogan abhängig. Er gehört selbst zu den Mitbegründern der konservativ-islamischen AKP, er war deren erster Ministerpräsident und später Präsident, er ist nach Erdogan der angesehenste Mann in der Partei. Wenn es in der Türkei jemanden gibt, der Erdogans Machtstreben etwas entgegenzusetzen hat, dann ist es Gül.

Eine solche Bremse wird möglicherweise auch nötig sein. Als neuer Präsident betont Erdogan zwar die Aufgabe, die gesamte Nation zu vertreten, nicht nur einen Teil. Seine Ankündigung in seiner Siegesrede am Sonntagabend, die Ära von Polarisierung und Anfeindungen zu beenden und eine "neue gesellschaftliche Verständigung" anzustreben, stößt bei Kritikern des bisherigen Premierministers aber auf Skepsis. Schließlich war es Erdogan, der in den vergangenen Jahren hart gegen Andersdenkende vorging - etwa bei den heftigen Gezi-Protesten im vergangenen Jahr - und der staatsanwaltschaftliche Korruptionsermittlungen zum Anlass für Massenentlassungen in Polizei und Justiz nahm. Wenn Erdogan jetzt von einem Neubeginn spricht, werden ihm nicht alle Türken glauben. Die gesellschaftlichen Gräben dürften bestehen bleiben und auch die kommenden Monate prägen.

Mit seiner ausgleichenden Art könnte Gül dazu beitragen, diese Gräben ein wenig zuzuschütten. Anders als Erdogan zeigte er beispielsweise Verständnis für die Gezi-Bewegung und sagte sogar, er sei stolz auf den Protest der jungen Leute. Völlig reibungslos wäre eine Zusammenarbeit zwischen Gül und Erdogan wahrscheinlich nicht.

Auch die Kommunikation mit Europa wäre mit Gül sicher einfacher. Brüssel rief Erdogan gestern bereits vorsorglich zu einer "ausgleichenden Rolle" im neuen Amt auf. Bei Gül wäre ein solcher Appell überflüssig. Doch Erdogan ist kaum bereit, seinen alten Freund Gül zum Regierungschef zu machen. Er strebt die Alleinherrschaft an.

Brenzlig könnte es indes werden, wenn die wirtschaftlichen Erfolge ausbleiben. Der Aufschwung hat kein solides Fundament. Er wurde vor allem von der Konsumgüternachfrage getrieben. Schon ist das Wachstum 2013 unter vier Prozent gesunken. Zugleich ist die Arbeitslosigkeit wieder auf knapp zehn Prozent hochgeschnellt. An dieser Flanke ist Erdogan verletzlich. Sollte das Land in eine Wirtschaftskrise geraten, weil die Dynamik erlahmt, dürften auch die Zeiten für Erdogan härter werden.

(RP)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort