Protestantisch genug?

Am Reformationstag besinnt sich die evangelische Kirche auf ihre Wurzeln. Das ist auch nötig, denn es droht eine Krise der protestantischen Identität. Am augenfälligsten wird das in der Ökumene.

Düsseldorf Was tut der Protestant am Reformationstag? Papierflieger falten. Zumindest wenn es nach Katrin Göring-Eckardt geht. Man möge doch heute Zettel mit Segenswünschen "vom Kirchturm, dem Rathaus, dem Feuerwehrturm" werfen, regt die Präses der Synode, also des Kirchenparlaments, der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) an. Ziel sei, "dem Wort auf neue Weise Flügel zu verleihen". Verabreden könne man sich zu der Aktion im Internet, rät Göring-Eckardt: "Wir wollen mit diesen 'Flashmobs' das Evangelium auf überraschende, ansprechende Weise im öffentlichen Raum kommunizieren."

Am Reformationstag gibt es, das muss der Fairness halber gesagt werden, landauf, landab außerdem Gottesdienste, Kirchenmusik, Vorträge. Die Flieger aber sind der auffälligste evangelische Versuch, eine Frage zu beantworten, die für das weitere Wohl und Wehe der Kirche zentral ist: Wie lässt sich das Evangelische in einer zunehmend entchristlichten Welt positionieren, wie protestantische Präsenz und damit Selbstbewusstsein zeigen?

Wer sich 2011, sechs Jahre vor dem 500. Jahrestag des Lutherschen Thesenanschlags, mit evangelischer Identität jenseits des Happenings beschäftigt, landet unweigerlich bei einem ökumenischen Ereignis: dem Treffen von Papst Benedikt XVI. mit der EKD im Erfurter Augustinerkloster Ende September. Im Jahr 494 der Reformation wurde dem deutschen Protestantismus in Erfurt die Frage gestellt, wie er sich neben einem unbeirrt auftretenden Amtskatholizismus aufstellen will. Hinweise gab es reichlich.

Da war einerseits Benedikt selbst. Seine Sätze, Glaube werde nicht ausgedacht oder ausgehandelt, ein "selbstgemachter Glaube" sei wertlos, wurden nur von wenigen nicht als Affront empfunden. Da war andererseits Göring-Eckardt – als Laiin und Frau in einem hohen Kirchenamt schon als Person eine doppelte Herausforderung für die Katholiken –, deren Erzählung von der DDR im Satz gipfelte, wenn man "Mauern aus Stein und Schweigen" zu lange bewache, brächen sie, "weil die Menschen von der Freiheit wissen". Das war dann auch inhaltlich eine Zumutung für die katholischen Gäste.

Großes Selbstbewusstsein und mehr also auf beiden Seiten – scheinbar. Doch schnell zeigte sich die Verunsicherung, vor allem auf evangelischer Seite. Festzumachen war das an der Fülle der Bewertungen, vom "bedeutenden Signal" (Göring-Eckardt) über "verpasste Chance" (Ex-Ratschef Wolfgang Huber) bis "weniger als wenig" (ein ungenannter Theologe). Vielstimmigkeit bis hin zur Widersprüchlichkeit. Warum?

Vorerst genügt zur Erklärung der Verweis auf die institutionelle, theologische und kulturelle Zerfaserung des deutschen Protestantismus – die EKD leistet sich 22 lutherische, unierte und reformierte Landeskirchen. In der Identitätskrise ist das Evangelische noch nicht. Aus dem Nebeneinander bewährter Glaubenserfahrung und ökumenischer Anfechtung könnte aber eine erwachsen. Das Dilemma erhellt sich am Beispiel einer Person – der des rheinischen Präses und EKD-Ratschefs Nikolaus Schneider.

Schneider bezeichnet sich nur halb im Scherz als "schlichte Seele vom Niederrhein": einer, der im Glauben ruht, keine intellektuellen Verrenkungen braucht, um ihn zu begründen, und im kleinen Kreis auch mal deutliche Worte der Kritik an den Katholischen findet. Kurz: einer, der sich kein Defizit an gesunder evangelischer Identität vorwerfen lassen muss.

Das ist der private Schneider. Der andere, die Amtsperson, repräsentiert gut 24 Millionen Protestanten und hat als Kirchendiplomat den Ausgleich mit den katholischen Glaubensbrüdern zu suchen. Dieser Schneider musste sich in Erfurt denn auch fast bis zur Selbstverleugnung der "schlichten Seele" mühen, aus dem Tag Positives herauszuwringen.

Faktisch sei Luther rehabilitiert, sagte er. Noch kein Papst habe sich so über ihn geäußert. Im Kapitelsaal hatte Schneider Benedikt die fast bittende Frage gestellt: "Verbindet ihn nicht Wesentliches mit der römisch-katholischen Kirche, das auch bleibt? Ist Luther nicht auch als ein Scharnier zwischen unseren Kirchen zu verstehen, weil er zu beiden Kirchen gehört?" – "Schmeicheln, schnurren, gurren", spottete tags darauf die "Frankfurter Rundschau" über das evangelische Werben.

Es geht freilich auch anders, zumindest im Ton. "Die evangelische Kirche wird ihre ökumenische Grundhaltung nicht davon abhängig machen, ob der Papst besonders freundlich und konziliant oder eben kantig und eckig auftritt", sagt Thies Gundlach, Vizechef des Kirchenamts und damit Cheftheologe der EKD, unserer Zeitung. "Es gibt bei uns keinen, der glaubt, wir träten in Koalitionsverhandlungen ein, wenn wir zu einer ökumenischen Begegnung einladen." Benedikts Satz vom selbstgemachten Glauben? "Unbedacht."

Wichtig sei jetzt, sagt Gundlach, "Kurs zu halten, auch ökumenisch" – soll heißen: sich von katholischer Kühle nicht aus dem Tritt bringen zu lassen. Die EKD werde weiter einladen, "an der Vorbereitung und an der Feier des Reformationsjubiläums 2017 teilzunehmen". Zugleich gelte: "Wenn jemand partout nicht will, dann will er nicht. Deshalb werden wir das Fest nicht absagen."

Schneiders Vorvorgänger Huber prägte das Wort von der "Ökumene der Profile" und verband damit die Prognose, Konfessionsunterschiede würden wieder stärker wahrnehmbar. Dafür habe man viel Kritik eingesteckt, sagt Gundlach: "Inzwischen scheint sich die römisch-katholische Kirche selbst daran zu orientieren."

Robustes protestantisches Selbstbewusstsein, das ist eine Lehre aus Erfurt für den Reformationstag, ist ohne entschiedene ökumenische Profilierung derzeit schwer zu haben. Papierflieger reichen wohl nicht.

(RP)
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