Analyse Polen rüstet gegen Russland auf

Warschau/Berlin · Vor dem Nato-Gipfel in Warschau rüstet Gastgeber Polen massiv auf. Paramilitärs sollen die Infrastruktur gegen Russlands hybride Kriegsführung schützen. Das Großmanöver "Anakonda" sorgt nicht nur in Moskau für Unmut.

Zu Pferde gegen deutsche Panzer: Die Bilder von todesmutigen Reitern, die sich im September 1939 der hoch technisierten Wehrmacht entgegenwarfen, haben sich tief in das Gedächtnis der Polen eingegraben. Es sind doppelbödige Erinnerungen. Sie künden vom heldenhaften Kampf der Soldaten, aber eben auch von der heillosen Unterlegenheit der polnischen Armee, die von den Deutschen buchstäblich überrollt wurde.

In diesen Tagen gewinnen die historischen Bilder vom "Blitzkrieg" neue Aktualität. Kurz vor dem Nato-Gipfel in Warschau Anfang Juli sendet Polens Führung doppelte Signale aus. Da ist zum einen das Großmanöver "Anakonda 2016", das noch bis Freitag läuft. Seit Dienstag proben an der Weichsel mehr als 31.000 Soldaten aus 24 Nato-Staaten und einigen Partnerländern den Ernstfall: einen Angriff aus dem Osten. Es ist die größte Militär-übung in Polen seit Ende des Kalten Krieges. Vor allem aber ist es eine Demonstration hoch technisierter "Blitzkriegsfähigkeiten", die heute unter Begriffen wie "Quick Response Force" (Schnelle Eingreiftruppe) firmieren.

"Wir testen die Bereitschaft der Allianz, sofort zu reagieren und unsere Ostflanke zu schützen", erklärt Verteidigungsminister Antoni Macierewicz. Dabei kommen Tausende Fallschirmjäger, Hunderte Panzer und Dutzende Kriegsschiffe zum Einsatz - alles auf dem neuesten Stand der Technik. Macierewicz war es aber auch, der vor dem Manöverbeginn ein zweites Signal sendete, indem er den Ausbau paramilitärischer Verbände in Polen ankündigte und damit Erinnerungen an die Kavalleristen des Zweiten Weltkriegs wachrief.

Was nicht zusammenzupassen scheint, fügt sich für Macierewicz sehr wohl zu einem Ganzen. "Die Truppe zur Territorialverteidigung ist unsere Antwort auf die wachsende Gefahr eines hybriden Krieges", ließ er mitteilen. Bis zum Jahr 2019 will Polen auf diese Weise 35.000 Zivilisten militärisch ausbilden und bewaffnen, damit sie im Kriegsfall hinter der Front die Infrastruktur des Landes schützen können: Polizei- und Behördengebäude, Krankenhäuser und Schulen.

Das Szenario, das Macierewicz und seine Strategen vor Augen haben, ist ein "hybrider" Angriff russischer Soldaten ohne Hoheitsabzeichen, wie diese ihn bereits 2014 auf der ukrainischen Krim vorexerziert haben. Sie besetzten damals auf der Schwarzmeer-Halbinsel die wichtigsten Schaltstellen des Staates, der so sein Gewaltmonopol und die Fähigkeit zur Machtausübung verlor. So ein Angriff wäre ein unerklärter Krieg, auf den die Nato nicht schnell antworten könnte. Das jedenfalls befürchten polnische und andere osteuropäische Politiker und Militärs.

Bei der Nato und in vielen Hauptstädten des Bündnisses sorgt die polnische Hyperaktivität vor dem Juli-Gipfel für Unmut. Der britische "Guardian" zitierte einen namentlich nicht genannten europäischen Verteidigungsattaché in Warschau mit den Worten: "Jedes klitzekleine Missgeschick, das die Russen falsch verstehen oder falsch verstehen wollen, könnte eine Offensive auslösen. Das wäre ein Albtraum-Szenario." Der russische Außenminister Sergej Lawrow drohte bereits, man behalte sich "alle denkbaren Reaktionen vor". Die Ost-West-Spannungen wachsen also wieder. Dabei hatte im April nach zwei Jahren Funkstille erstmals wieder der Nato-Russland-Rat getagt, ergebnislos zwar, aber das Gremium soll nach dem Willen der westlichen Allianz noch im Juni erneut zusammenkommen. Moskau zögert allerdings. Unstrittig ist: Brüssel sendet Signale der Entspannung. Dazu wollen die harschen Töne und Aktionen der Polen nicht recht passen, die zum "Anakonda"-Manöver gegen Nato-Bedenken auch Soldaten aus Georgien und der Ukraine eingeladen haben - aus Ländern, mit denen Russland kriegerische Konflikte ausgetragen hat oder sogar noch austrägt.

Doch damit nicht genug. Polen selbst rüstet massiv auf, und dies nicht erst seit dem Regierungswechsel im vergangenen Herbst, als die rechtspopulistische PiS-Partei das Ruder übernahm, die besonderen Wert auf nationale Stärke legt. Bereits 2009 hatte die Regierung des liberal-konservativen Ministerpräsidenten Donald Tusk die Wehrpflicht abgeschafft und mit dem Aufbau einer Berufsarmee begonnen, die sukzessive mit hochmoderner Technik ausgerüstet wurde. Militärexperten halten die Armee bereits für ähnlich schlagkräftig wie die Bundeswehr. Diese neue Stärke will Warschau künftig vor allem zur Landesverteidigung einsetzen. Im Zeichen der Krim-Konfrontation 2014 entschied der damalige Präsident Bronislaw Komorowski, Polen werde sich bei Auslandseinsätzen wie in Afghanistan oder dem Irak künftig zurückhalten. Die PiS-Regierung will zudem die eigene Rüstungsindustrie intensiv fördern.

All das hört man bei der Nato in Brüssel, aber auch in Washington nicht gern. Dabei glaubte man dort, dem polnischen Sicherheitsbedürfnis bereits ausreichend Rechnung getragen zu haben, das aufgrund der historischen Erfahrungen mit Russland im Westen durchaus auf Verständnis stößt. Zuletzt hatte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg bei einem Besuch in Warschau angekündigt, das Bündnis werde beim Juli-Gipfel "Schlüsselentscheidungen zur Stärkung der Ostflanke" treffen. Konkret ist von vier Bataillonen mit insgesamt 4000 Soldaten die Rede, die in Polen stationiert werden sollen. Darüber hinaus haben die USA weitere Unterstützung für Polen zugesagt. Ab 2018 soll in Redzikowo an der Ostsee eine Raketenbasis errichtet werden. Damit will Washington den Unmut in Warschau besänftigen, der 2009 hochgekocht war und sich noch immer nicht gelegt hat: Damals hatte US-Präsident Barack Obama entschieden, die Pläne seines Vorgängers George W. Bush für einen Raketenschild in Osteuropa nicht weiterzuverfolgen.

(RP)
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