London Planlos im Brexit-Labyrinth

London · Die britische Regierung unter der neuen Premierministerin Theresa May sucht nach einer Ausstiegsstrategie - und spielt dabei auf Zeit.

Ein Sitzungsaal im House of Lords: Gediegene Holzvertäfelung, rote Lederstühle, aber von der imposanten Kulisse lässt sich der Mann im Zentrum der Befragung nicht groß beeindrucken. Er hat Oberwasser. "Das werden wahrscheinlich die kompliziertesten Verhandlungen der jüngeren Geschichte", erklärt David Davis fröhlich, "vielleicht sogar die kompliziertesten Verhandlungen aller Zeiten."

Der Minister für den Austritt aus der Europäischen Union, wie sein offizieller Titel lautet, sagt vor dem EU-Ausschuss des britischen Oberhauses aus, doch verraten will er nichts. Wieder und wieder wollen die Lords von ihm wissen, wann genau die Austrittsverhandlungen mit der EU beginnen werden, welches Handelsmodell Großbritannien anstrebt oder wie es um die Freizügigkeit bestellt sein wird. Aber Davis mauert. Es würde seine Verhandlungsposition schwächen, wenn er Details verraten würde.

Noch nicht einmal das Parlament also, laut ungeschriebener Verfassung immerhin oberster Souverän im Königreich, weiß Bescheid. Es herrscht das Fragezeichen. Und das große Warten will nicht enden. Fast drei Monate sind ins Land gegangen, seitdem sich die Briten in ihrem Referendum für den Brexit, den Austritt aus der Europäischen Union entschieden haben. Doch in der Zwischenzeit ist nichts geschehen an der Brexit-Front. Man weiß noch nicht einmal, wann die britische Regierung den Artikel 50 des Lissaboner Vertrages nutzt und damit die Europäische Kommission formell vom Austrittswunsch unterrichtet. Ab dann würde die Uhr anfangen zu ticken: Es blieben zwei Jahre, um die Modalitäten der Scheidung zu verhandeln. Doch London lässt sich Zeit. "Ich wäre lieber", erklärt Davis, "einen Monat zu spät und würde es richtig machen, als einen Monat zu früh und würde es falsch machen." Der Mann hat Nerven.

Vielleicht ist ja auch der Grund, warum David Davis keine konkreten Antworten geben mag, dieser: Er kennt sie selber nicht. Davis wirkt verloren im Brexit-Labyrinth. Ambitionen mag er haben, aber einen Plan hat er nicht. Das wurde deutlich, als der Brexit-Minister gleich zurückgepfiffen wurde, als er sich einmal doch zu einer klaren Aussage hinreißen ließ. Er halte, hatte Davis vor dem Unterhaus erklärt, eine Mitgliedschaft im Binnenmarkt nach erfolgtem Brexit "für sehr unwahrscheinlich". Das, so stellte umgehend die Sprecherin der Premierministerin fest, würde die persönliche Meinung von Davis reflektieren, nicht aber die Regierungspolitik.

Damit war klargestellt, dass nicht Davis die Strategie bestimmt. Und dass es Premierministerin Theresa May nicht mag, wenn sich ihre Minister zu weit aus dem Fenster lehnen. Neben David Davis sind zwei weitere Kabinettsmitglieder an der Brexit-Planung beteiligt: der Außenminister Boris Johnson und der Minister für internationalen Handel Liam Fox. Es war ein machtpolitisch ziemlich kluger Schachzug von Theresa May, drei prominente Euroskeptiker und Austrittsbefürworter mit dem bürokratischen Kleinklein zu beauftragen. Denn die "drei Brexitiere", wie sie jetzt heißen, sind untereinander zerstritten. Sie befleißigen sich in Revierkämpfen.

Das Außenministerium, verlangte Liam Fox in einem Brief an Johnson, sollte die Außenhandelskompetenz aufgeben und die dafür zuständigen Fachleute an sein Ministerium überstellen. Theresa May pfiff Fox zurück. Dafür hat sie den Landsitz Chevening House in Kent, der traditionell dem Außenminister als Wochenendresidenz dient, auch den anderen beiden Brexitieren zur Verfügung gestellt. Die dürfen sich jetzt darüber streiten, wer zu welcher Zeit den Pool benutzen darf.

Es ist ein klarer Fall von teile und herrsche. Die Premierministerin will das letzte Wort haben, wenn es um die grundsätzlichen Weichenstellungen beim Thema Brexit geht. Das ist nicht nur taktisch klug, sondern auch strategisch geboten, weil die entscheidende Frage über die nächsten Jahre sein wird: Soll es ein harter oder ein weicher Brexit werden? Code dafür ist, ob man weiterhin Mitglied im EU-Binnenmarkt sein will oder nicht. In ihrem Kabinett gibt es dazu völlig unterschiedliche Positionen. Während Fox und Davis für hart plädieren, hält Johnson seine Optionen offen und der Schatzkanzler Philip Hammond, die Nummer zwei nach May, verlangt den möglichst ungehinderten Zugang zum Binnenmarkt. Das will auch May, aber sie hat ebenfalls versprochen, dass Großbritannien wieder "einige Kontrolle" bei der Zuwanderung von EU-Bürgern zurückgewinnen muss.

Das Thema Einwanderungskontrolle spielte eine entscheidende Rolle in der Referendumsdebatte. May kann diese Forderung nicht ignorieren. Zugleich ist der Zugang zum Binnenmarkt von zentraler Bedeutung für die britische Wirtschaft. Beides zusammen ist nicht zu haben, hat Guy Verhofstadt, der Verhandlungsführer des EU-Parlaments, klargestellt. Vielleicht doch, hofft die Premierministerin, und spielt daher auf Zeit. Eine ihrer wenigen konkreten Aussagen zum Brexit war, dass sie den Artikel 50 "nicht vor Ende des Jahres" anrufen wird.

(RP)
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