Paris Paris wird zum Flüchtlingscamp

Paris · Fast 3000 illegale Migranten leben in der französischen Hauptstadt auf der Straße. Sie sind weitgehend sich selbst überlassen.

Wer an der Pariser Metrostation Jaurès aussteigt, hat schnell einen Uringeruch in der Nase. Er kommt von den fünf Dixi-Klos, die am Quai de Jemmapes gleich gegenüber stehen. Fünf Klos für rund 200 Flüchtlinge, die unterhalb der Straße am Ufer des Canal Saint-Martin in ihren bunten Iglu-Zelten hausen. Abdul ist einer von ihnen. Der Afghane steht mit einem Formular in der Hand vor einem weißen Zelt, in dem Helfer von Médecins sans Frontières die Flüchtlinge bei ihren Formalitäten beraten. "Ich will in Frankreich Asyl beantragen", sagt der 32-Jährige mit der grauen Sweatshirt-Jacke und der Pony-Frisur auf Englisch.

Abdul spricht auch ein paar Brocken Deutsch, denn er arbeitete jahrelang als Betriebswirt für eine Firma, die die in Afghanistan stationierten Nato-Truppen, darunter auch die Bundeswehr, mit Öl belieferte. Als sich die US-Truppen aus Afghanistan zurückzogen, wurde das Leben für ihn dort gefährlich, denn die extremistischen Taliban bedrohten auch ihn. Deshalb floh er über den Iran in die Türkei. "Es war der 7. Juni 2015", erinnert er sich an den Tag, an dem er seine im achten Monat schwangere Frau zurückließ.

Anderthalb Jahre lang hielt der Vater zweier Kinder sich in der Türkei auf, bevor er über Stationen in Bulgarien und Serbien schließlich nach Frankreich kam. Damit fällt er in die Kategorie, die man in Frankreich "Dublinés" nennt. Das sind jene Flüchtlinge, die laut dem Dublin-Abkommen eigentlich in ihr Erst-Einreiseland in der EU zurückgeschickt werden müssen. Doch Abdul, der sechs Sprachen spricht, will unbedingt in Frankreich bleiben. "Frankreich gibt Afghanen Asyl." Er will noch einmal die Universität besuchen, einen französischen Abschluss machen und arbeiten. Und natürlich seine Familie nachholen.

Doch zuerst will er weg aus der Zeltstadt am hippen Canal Saint-Martin, in der er seit zwei Monaten lebt. Zu essen bekommt er täglich von den Freiwilligen der Hilfsorganisationen, aber die sanitäre Lage ist katastrophal. Duschen gibt es nur eine halbe Stunde zu Fuß entfernt in einem öffentlichen Bad. Am Quai de Jemmapes, wo die Ufermauern voller Graffiti sind, hängt die Wäsche über dem Zaun. Vor einigen Zelten stehen alte Stühle und Sessel vom Sperrmüll. Die Bewohner, ausschließlich junge Männer, sitzen darauf und dösen. Die Bilder erinnern an das Flüchtlingslager von Calais, das jahrelang der Schandfleck Frankreichs war, und das im Herbst 2016 geräumt wurde. "Paris - das neue Calais", titelte die Zeitung "Le Parisien" vor einigen Wochen. Fast 3000 - noch nie haben in der Hauptstadt so viele Flüchtlinge auf der Straße gelebt. Und täglich kommen Dutzende hinzu.

Zwischen den Bewohnern der Camps kommt es immer wieder zu Prügeleien. Ein Afghane, der nicht schwimmen konnte, ist bereits im Canal Saint-Martin ertrunken. "Die Sicherheit und die Gesundheit der Menschen, die im Lager leben, aber auch der Helfer und der Anwohner ist nicht mehr garantiert", heißt es in einer Petition mehrerer Hilfsorganisationen, die eine würdige Unterbringung für die Flüchtlinge fordern. "Die Lage ist brenzlig", sagt Pierre Henry, der Leiter von France Terre d'Asile. "Die Leute hier werden einfach sich selbst überlassen." Seine Organisation hat ihre Büros direkt neben dem Lager. "Achtung, dieser Ort muss ruhig und sauber bleiben", steht auf einem DIN-A-4-Zettel, der in einem der dreckigen Fenster des Gebäudes aus den 80er Jahren am Boulevard de la Villette hängt. "Kein Geschrei, keine Gewalt."

Doch genau das bleibt nicht aus in den drei Lagern von Paris. Am Quai de Jemappes und an der Porte de la Chapelle zelten vor allem Afghanen, während in Aubervilliers im Norden der Hauptstadt vor allem Sudanesen und Eritreer hausen. Seit die einzige Erstaufnahmeeinrichtung von Paris Ende März geschlossen wurde, haben sie keine Anlaufstelle mehr. "Das sind fast alles Dublinés", sagt Yann Manzi. Also Flüchtlinge, die irgendwo in Europa bereits erfasst wurden. Die Aufnahmezentren, die der Staat überall im Land geschaffen hat, sollen ihre Identität feststellen und sie danach abschieben.

Manzi kritisiert den Kurs von Innenminister Gérard Collomb scharf. "Er betreibt eine Politik der Nicht-Aufnahme. Er will zeigen, dass die Menschen hier schlecht behandelt werden, damit nicht noch mehr kommen." Collomb, einst Sozialist, ist zum Falken geworden, der sich nicht scheut, das Vokabular des rechtspopulistischen Front National zu übernehmen und vor einer "Überschwemmung" des Landes mit Flüchtlingen zu warnen. Mit der Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, liefert Collomb sich einen Dauerstreit darüber, wer für die Flüchtlingsmisere an der Seine verantwortlich ist. Hidalgo besucht jede Woche das Lager Millénaire in Aubervilliers, in dem 1700 Menschen auf engstem Raum leben und kritisiert die unmenschlichen Bedingungen. "Wir bewegen uns auf eine Katastrophe zu", warnt die Sozialistin, die in zwei Jahren wiedergewählt werden will.

Doch Collomb beeilt sich nicht, an der prekären Lage etwas zu ändern. Sein Ministerium kündigte zwar unlängst eine Evakuierung an, will dabei aber "administrative Kontrollen" vornehmen, um jeden ohne Asylanspruch abzuschieben. Der Innenminister hat die rund 100.000 Asylbewerber im Hinterkopf, die Frankreich im vergangenen Jahr registrierte - 17 Prozent mehr als im Vorjahr. "Wir schicken zu wenige zurück. Wir lassen zu, dass Tausende sich in einem administrativen Niemandsland niederlassen", kritisierte Präsident Emmanuel Macron im Herbst in einer Rede vor den französischen Präfekten. Collomb wird noch deutlicher: Er spricht vom "Tri", einem System des Aussortierens wie bei der Mülltrennung. "Er will damit Frankreichs Rechten zeigen, dass er die Flüchtlinge abschiebt. Das ist Wahlkampf", bemerkt Manzi. "Der Zulauf beim Front National bringt die Regierung dazu, strenge Gesetze zu verabschieden." Gemeint ist das neue Asylrecht, das kürzere Einspruchsfristen und eine längere Abschiebehaft vorsieht.

Gegen diese Politik der harten Hand setzt Manzi das Engagement seiner Organisation. Im Herbst 2015 gründete der Schausteller, der bei Musikfestivals die Unterbringung der Teilnehmer organisiert, zusammen mit seiner Frau, seinem Sohn und zwei Freunden Utopia 56. Auslöser war das weltberühmt gewordene Foto des toten Aylan Kurdi am Strand von Bodrum. In nur zweieinhalb Jahren schlossen sich Manzis Graswurzelbewegung 10.000 Mitglieder an, darunter auch Deutsche und Engländer. Allein in Paris sind täglich rund 150 Freiwillige im Einsatz, die Kleider sammeln, Essen verteilen und Wohnungen für Frauen und Kinder suchen. Ein Netzwerk von 200 Parisern ist bereit, die Schutzbedürftigen bei sich aufzunehmen. "Je härter die Einwanderungspolitik wird, desto mehr Freiwillige engagieren sich in Hilfsorganisationen", sagt Jean-Claude Mas von der Organisation Cimade der Zeitung "Libération".

Damit es noch mehr werden, begann die Cimade zusammen mit Utopia 56 und anderen Ende April in Ventimiglia an der italienischen Grenze einen Marsch durch das ganze Land. Bis nach Calais wollen die Teilnehmer wandern und dabei mit den Franzosen über die Probleme der Flüchtlinge sprechen. Eine schwere Aufgabe. Denn eine Umfrage im Februar ergab, dass zwar 65 Prozent für die Aufnahme von Flüchtlingen sind, aber 63 Prozent glauben, dass zu viele ins Land kommen. "Wir werden nicht von den Flüchtlingen überschwemmt", sagt Manzi. "Europa erlebt keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Aufnahme der Flüchtlinge", ergänzt der Bretone. "Frankreich ist ein reiches Land, doch wir machen nicht einmal das Minimum."

(RP)
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