Analyse Pädophilie-Debatte erreicht Trittin

Berlin · Die Diskussion um pädophile Strömungen bei den Grünen in den 80er Jahren hat die Spitze der Partei erreicht. Jürgen Trittin war für ein Kommunalwahlprogramm verantwortlich, das Straffreiheit für Sex mit Kindern forderte.

Sechs Tage vor der Bundestagswahl werden die Grünen von der Vergangenheit eingeholt. Spitzenkandidat Jürgen Trittin hat frühere pädophile Strömungen in der Partei mitgetragen. Wie der Parteienforscher Franz Walter in einem Aufsatz für die "taz" schreibt, zeichnete Trittin 1981 für das Kommunalwahlprogramm der Alternativen-Grünen-Initiativen-Liste (Agil) in Göttingen presserechtlich verantwortlich. Darin forderte die Gruppierung, die sexuellen Handlungen zwischen Kindern und Erwachsenen strafrechtlich freizustellen — sofern sie nicht unter Androhung oder Anwendung von Gewalt zustande gekommen seien. Der Spitzen-Grüne selbst kandidierte damals als Student für den Stadtrat.

Trittin, der im Fall einer Regierungsübernahme der Grünen als Finanz- oder Außenminister im Gespräch ist, bestätigte der "taz" die Angaben des Wissenschaftlers. Nicht nur die Grünen seien in ihrer Gründungsphase als Partei in den 80er Jahren organisiertem Druck von Interessengruppen ausgesetzt gewesen, die den Missbrauch von Kindern legalisieren wollten, betonte Trittin. Den falschen Forderungen sei die Agil nicht energisch genug entgegengetreten. "Wir haben es nicht mal hinterfragt, als wir unser Programm zur Kommunalwahl 1981 erstellt haben", sagte Trittin. "Dies ist auch meine Verantwortung. Und dies sind auch meine Fehler, die ich bedaure."

Die Grünen hatten den Politikwissenschaftler Franz Walter beauftragt, die pädophilen Strömungen in den frühen Jahren ihrer Partei zu untersuchen. Anlass waren Vorwürfe, dass die Grünen in den 80er Jahren von Pädophilen unterwandert wurden und eine Arbeitsgemeinschaft, in der sich Homosexuelle und Pädophile sammelten, von Fraktion und Partei auch finanziell unterstützt wurde. Walter soll beschreiben, in welchem Umfang die Grünen in ihren frühen Jahren von Pädophilen durchsetzt waren und welchen Einfluss diese auf die Partei hatten.

Sein Gesamtergebnis will der Politologe erst 2014 vorlegen. Die Veröffentlichung in der "taz" wenige Tage vor der Bundestagswahl trifft die Grünen hart. Sie stecken seit wenigen Wochen in einem Umfragetief und mussten in Bayern seit langem erstmals wieder bei einer Wahl Verluste hinnehmen. Für Trittin stellt sich die Frage, was schwerer wiegt, dass er vor mehr als 30 Jahren sich nicht ausreichend von den Pädophilen distanzierte oder dass er trotz der öffentlichen Debatte über das Thema so lange geschwiegen hat. Trittin erklärte gestern, er habe sich an die Passage nicht mehr erinnern können und erst vergangenen Donnerstag davon erfahren.

Aus der Union gibt es inzwischen eine Reihe von Rücktrittsforderungen gegen Trittin. Die Vorsitzende der CSU-Landesgruppe, Gerda Hasselfeldt, forderte ihn zum Rückzug von der Spitzenkandidatur auf. Man stelle sich vor, eine Woche vor der Bundestagswahl würde herausgekommen, dass der Spitzenkandidat des politischen Gegners früher ein Partei-Programm verantwortet habe, in dem Kindesmissbrauch straffrei gestellt werden soll, sagte Hasselfeldt unserer Zeitung. "Herr Trittin wäre einer der ersten, die sich entrüstet und einen Rücktritt gefordert hätten. Herr Trittin sollte an sich endlich die gleichen Maßstäbe anlegen, und die Konsequenzen ziehen", sagte Hasselfeldt. Das Verhalten von Trittin belege die "Doppelmoral" bei den Grünen, kritisierte die CSU-Politikerin. "An das Verhalten anderer legen sie einen völlig anderen Maßstab an, als an das eigene Verhalten."

CDU-Generalsekretär Hermann Gröhe erklärte, der Vorgang erschüttere die Glaubwürdigkeit der Grünen erheblich. Familienministerin Kristina Schröder (CDU) warf Trittin "blanken Hohn" gegenüber allen Missbrauchsopfern vor.

Nachdem das Pädophilie-Thema nun auch beim Spitzenkandidaten der Grünen angekommen ist, ist die Partei gestern in die Offensive gegangen. "Wir wollten ja jemanden, der absolut unabhängig ist", sagte Parteichef Cem Özdemir über Walter. "Er macht es so, dass er keine Rücksicht nimmt, auch nicht auf einen Wahltag. Das ist richtig so." Alles müsse aufgearbeitet werden.

Zu Beginn der Debatte war den Grünen immer wieder vorgeworfen worden, dass sie ohne Empathie, ohne echte Reue und ohne Angebote für mögliche Opfer auf die Vorwürfe aus der Vergangenheit reagierten. Dies wiegt umso schwerer, als dass es die Grünen waren, die in der Debatte um Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen sich besonders laut empörten. Als die Missbrauchsfälle in den katholischen Schulen bekannt wurden, zeigte sich Grünen-Chefin Claudia Roth "erschrocken" über die "Unfähigkeit der katholischen Kirche mit dem Missbrauchsskandal angemessen umzugehen".

Nun ist die Tolerierung pädophiler Strömungen in einer Partei nicht direkt vergleichbar mit systematischem Missbrauch von Schutzbefohlenen. Allerdings vermeiden die Grünen eine offene Debatte über die Vergangenheit. Die Frage, wie man mit möglichen Opfern umgeht, wurde zunächst nicht thematisiert. Für sie existiert inzwischen das Angebot, sich direkt an Franz Walter zu wenden. Der Politologe geht mit den Grünen und ihren Anhängern hart ins Gericht. "Die kollektive Amnesie im Alternativmilieu zeigt: Die Debatte über die damals strittigen Strafrechtsparagrafen und die Politik pädophiler Gruppen fängt erst an", schreibt Walter in der "taz". Den Grünen wirft er vor, noch nicht einmal den Versuch zu unternehmen, das Geschehene zu erklären. Er kritisiert: "Stattdessen hat sich bei den Grünen ein Gemisch aus Ratlosigkeit, Lähmung, ja: Furcht vor der Debatte breit gemacht." Zugleich warnt er andere Parteien, den Mund nicht zu weit aufzumachen. Die Pädophilie sei nicht nur ein Grünen-Problem.

(brö/qua)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort