Ankara Osmanen-Verklärung in Türkei

Ankara · Präsident Erdogan fordert eine Rückbesinnung auf angeblich glorreiche Zeiten und will sich als Beschützer des Islam positionieren.

In aller Welt bemühen sich Bildungsbehörden, den Kindern ihrer Länder so gut wie möglich Englisch oder andere moderne Weltsprachen beizubringen. Doch in der Türkei dringt die Regierung unterdessen darauf, die junge Generation eine vor 100 Jahren abgeschaffte Hofsprache lernen zu lassen, die im 21. Jahrhundert weder große Erkenntnisgewinne noch eine besonders gute Vorbereitung auf die Herausforderungen der neuen Zeit verspricht.

"Ob sie wollen oder nicht - sie werden Osmanisch lernen", sagt Präsident Recep Tayyip Erdogan über die rund 17,5 Millionen Schüler in seinem Land. Erdogan, der keine einzige Fremdsprache spricht, hat die Sprache des 1918 untergegangenen Osmanischen Reiches zu einer Priorität der Bildungspolitik erklärt.

Die türkische Bildungskonferenz, ein Treffen von Politikern, Lehrern und Experten, beschloss kürzlich, das Osmanische auf die Lehrpläne der religiösen Imam-Hatip-Gymnasien zu setzen. Die Imam-Hatip-Schüler machen weniger als zehn Prozent aller türkischer Gymnasiasten aus. Doch wenn es nach Erdogan geht, sollen in Zukunft alle Oberschüler Osmanisch pauken. Allein durchsetzen kann Erdogan die Reform nicht, doch die Bildungskonferenz ist mehrheitlich mit Regierungsanhängern besetzt.

Tatsächlich entsprechen die Entscheidungen der Bildungskonferenz den geistigen Vorgaben der "Neuen Türkei", die Erdogan besonders seit seiner Wahl zum Präsidenten im August offensiv vertritt: Er fordert die Ausbildung einer "frommen Jugend", er will ein Land, das stolz ist auf den Islam und auf die islamische Kultur und in dem Säkularisten und andere Skeptiker keine Rolle mehr spielen. Seine umstrittenen Äußerungen über die Entdeckung Amerikas durch Muslime und seine scharfe Kritik an der angeblich nur an Öl und Gas interessierten Nahost-Politik des Westens sind Ausdruck dieser Vision.

Für Erdogan geht es darum, sich selbst und die Türkei als Beschützer des Islam zu etablieren. So bauen die Türken in Albanien derzeit die größte Moschee des Balkans. Erdogans Ankündigung, er wolle auch in Kuba eine Moschee bauen lassen, weil Kolumbus dort angeblich ein islamisches Gotteshaus sah, passt zu dieser Politik. Über Jahrhunderte seien die Türken die Bannerträger des Islam gewesen, sagte Erdogan in Anspielung auf das Osmanenreich, dessen Gebiet lange Zeit die heiligen Stätten des Islam in Mekka, Medina und Jerusalem umfasste. Die moderne Türkei sei sich ihrer Verantwortung bewusst.

Auch bei seinem jüngsten Vorstoß geht es dem Präsidenten gar nicht so sehr um das linguistische Erbe seines Landes. Die Osmanisch-Initiative ist Teil eines politischen Programms, mit dem Erdogan eine Rückbesinnung der Türkei auf ihre islamischen Wurzeln fördern will. Das Osmanische, eine Form des Türkischen mit vielen arabischen und persischen Lehnwörtern und mit arabischer Schrift, war in den 1920er Jahren von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk durch das moderne, mit lateinischen Buchstaben geschriebene Türkisch ersetzt worden.

Die Zeit des Osmanen-Reiches als angeblicher Ära von Frieden und Harmonie spielt bei den Bemühungen der islamisch-konservativen Regierung um eine Festigung einer muslimisch geprägten Identität der Türken schon seit längerem eine große Rolle. In Istanbul ließ die AKP-Stadtverwaltung ein üppiges Panorama-Museum zum Thema der Eroberung der Stadt durch Osmanen-Sultan Mehmet II. im Jahr 1453 bauen.

Erdogan und sein Ministerpräsident Ahmet Davutoglu verweisen häufig auf die Osmanenherrschaft im Nahen Osten als Beispiel für ein vorbildhaftes Zusammenleben der Angehörigen verschiedener Religionen. Nicht nur türkische Politiker sind fasziniert von der guten alten Zeit. Im türkischen Fernsehen locken Serien über das Leben am osmanischen Hof Millionen von Zuschauern vor die Bildschirme.

Erdogans Forderung nach Osmanisch-Unterricht bildet eine neue Stufe der Osmanen-Verherrlichung. Die Webseiten regierungsnaher Zeitungen bieten ihren Lesern bereits die Übersetzung ihrer Namen ins Osmanische an. Die Opposition argwöhnt unterdessen, dass Erdogan die vor 90 Jahren abgeschaffte arabische Schrift wieder einführen und damit die Reformen Atatürks zum Teil wieder aufheben will. Dass bei einigen Osmanisch-Befürwortern eine deutliche Abneigung gegen den Staatsgründer besteht, der eine radikale Abkehr von der osmanischen Tradition verordnete, ist unübersehbar. Der islamistische Intellektuelle Ümer Tugrul Inancer sagte, mit Atatürks Sprachreform seien die Türken behandelt worden "wie Hunde".

Allerdings haben weder Erdogan noch die regierungstreuen Bildungspolitiker bisher erklären können, welcher Stoff im Fach "Osmanisch" überhaupt gelehrt werden soll. Die osmanische Hofsprache ist ein hochkompliziertes Gebilde, das nur von wenigen Experten beherrscht wird. Das Verhältnis zwischen dem Osmanischen und dem modernen Türkisch sei vergleichbar mit dem zwischen dem mittelalterlichen Englisch mit seinen vielen französischen Lehnwörtern und dem modernen Englisch, schrieb der Journalist Semih Idiz kürzlich.

Einige Beobachter wie Idiz plädieren dafür, die osmanische Sprache zum Wahlfach zu machen, um die Erforschung osmanischer Dokumente zu erleichtern, die bisher vielfach ungelesen in den Archiven lagern. Doch ein Pflichtfach daraus zu machen, sei angesichts der Bedürfnisse der modernen Türkei und ihrer Wirtschaft kontraproduktiv, schrieb der Wirtschaftskolumnist Emre Deliveli in der "Hürriyet Daily News". Wenn Erdogan wirklich wolle, dass türkische Schüler eine Fremdsprache lernen, dann solle er es einmal mit Englisch versuchen, kritisierte Deliveli: Derzeit bilde die Türkei in Sachen Englischkenntnissen das Schlusslicht in Europa - und die Osmanisch-Debatte verhindere eine Diskussion über die wirklichen Probleme im Bildungssystem.

(RP)
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