Schlechte Quoten Wenn der Tod Leben retten kann

Analyse · Auf eine Million Einwohner kommen in Deutschland nur knapp elf Organspender. Das ist eine niedrige Quote im europäischen Vergleich. Woran es hapert – und welchen Weg die Schweiz jetzt einschlagen will.

 Entnahme einer Niere, die zur Organspende vorgesehen ist.

Entnahme einer Niere, die zur Organspende vorgesehen ist.

Foto: dpa/Jan-Peter Kasper

In der Schweiz entscheiden die Menschen am Sonntag über den Umgang mit Organspenden: Sie sollen darüber abstimmen, ob auch bei ihnen in Zukunft die Widerspruchslösung gelten soll. Dann müsste jeder Bürger, der keine Organe spenden möchte, die Initiative ergreifen und seine Ablehnung ausdrücklich bekunden. Ansonsten werden sie im Falle eines Hirntods entnommen, wenn es medizinisch sinnvoll ist und die Angehörigen nicht widersprechen. Nach der bisher geltenden Lösung ist es umgekehrt: Eine Spende ist nur möglich, wenn der Spender das zu Lebzeiten ausdrücklich erklärt hat, etwa im Spenderausweis, oder sein nächster Angehöriger zugestimmt hat.

Was nach der Abwägung zwischen einer umständlichen und einer pragmatischen Lösung klingt, ist eine ethisch höchst sensible Frage. Es geht um Hilfe für schwerkranke Menschen, die ein Spenderorgan retten könnte. Es geht aber auch um das Recht jedes Einzelnen, über seinen Körper zu bestimmen – und unversehrt zu bleiben, auch wenn der Hirntod eintritt und unversehrte Organe für andere lebensrettend sein könnten. Es geht auch um die Angehörigen, die im Zweifelsfall sagen müssen, was der Wille des Verstorbenen war. Und die im Falle einer Organentnahme vielleicht Trost darin finden, dass ein anderer Mensch weiterleben kann. Vielleicht aber auch damit hadern, dass sie sich von einem hirntoten Menschen verabschieden müssen, der dann noch einmal zur Entnahme in den OP gebracht wird.

Es geht also um unser Menschenbild, um den Umgang mit Sterben und Tod, um Freiheit, Nützlichkeit und auch die Rolle des Staates. Muss er die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen schützen? Oder trägt der Staat Verantwortung für Schwerkranke, die ohne eine Umkehr der Erklärungspflicht kaum Chancen auf ein rettendes Organ haben? Muss er mehr tun, um seine Bürger zu mündigen Entscheidungen zu einem Thema zu bringen, das die meisten am liebsten ausblenden?

In Deutschland hat der Bundestag vor zwei Jahren entschieden, dass es im Prinzip bei der Entscheidungslösung bleiben soll. Weil das als Hauptursache dafür gesehen wird, dass die Zahl von Organspendern hierzulande sehr gering ist, entschloss man sich – typisch deutsch – zu flankierenden Regeln, um der Bereitschaft der Bürger nachzuhelfen. Aus Sicht betroffener Patienten ist das bitter nötig. Gerade warten in Deutschland mehr als 9000 Patienten auf ein Spenderorgan, die meisten, weil sie eine Niere brauchen. Doch gab es 2020 bundesweit nur 913 Spender. Die Quote liegt bei 10,9 Spendern je eine Million Einwohner. In Spanien sind es 38 auf eine Million Einwohner. Das Land ist seit Jahren Spitzenreiter in der EU. Dort gilt die Widerspruchsregel. Allerdings sind die Zusammenhänge komplex. Es spielen auch andere Faktoren eine Rolle: etwa die Ressourcen an Fachpersonal in den Kliniken, vor allem aber die Aufklärung der Bevölkerung.

In Deutschland scheut man den Automatismus, der in der Widerspruchsregel steckt und Menschen das Gefühl geben kann, über ihre Körper werde verfügt. Die Debatten zur Impfpflicht haben gezeigt, wie sensibel der Umgang mit dem Körper ist. Um trotzdem von den geringen Spenderzahlen wegzukommen, sollte es in Deutschland bessere Aufklärung und vereinfachte Meldemöglichkeiten in einem Register geben. Das hat der Bundestag vor zwei Jahren entschieden, als er bei der Entscheidungslösung blieb. So sollten Menschen nicht nur von ihren Hausärzten regelmäßig auf das Thema angesprochen werden, sondern auch bei der Beantragung von Ausweisdokumenten in Bürgerbüros. Wenn sie ihre Dokumente abholen, sollten sie ihre Haltung zu Organspende in ein Melderegister eintragen lassen. Für diese Regelung hatte unter anderem die damalige Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock geworben.

Daraus geworden ist bisher wenig. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte hat einen externen Dienstleister mit der Entwicklung des Registers beauftragt. Der kommt kaum voran. Zunächst hatte es geheißen, die Entwicklung verzögere sich bis 2022. Auf Nachfrage heißt es nun, das Register werde sich über 2022 hinaus „erheblich verzögern“. Es geht unter anderem um einfachen Zugang und Datenschutz – und die Vereinbarkeit von beidem. Auch die Idee, Menschen bei der Beantragung ihrer Ausweisdokumente zu einer Entscheidung in Sachen Organspende zu bewegen, ist bisher nicht in Gang gekommen – und wird womöglich nie kommen.

Praktisch hat sich also wenig verändert: Die Last, die Initiative zu ergreifen, liegt bei denen, die ihre Organe spenden möchten. Und dazu aufraffen können sich nur wenige. Nur bei etwa 17 Prozent fraglicher Fälle auf den Intensivstationen ist der Wille heute eindeutig geklärt.

Im Prinzip wollte Deutschland einen guten Mittelweg gehen: die Selbstbestimmung der Bürger hochhalten, ihre Körper nicht ungefragt zur Rettung anderer bestimmen, sie aber bei einem regulären Ämtergang zu einer Haltung in einer Frage bringen, die für schwerkranke Menschen über Leben und Tod entscheidet. Doch führte dieser Weg bisher nur in den Dschungel der Bürokratie.

In der Schweiz, so sagen Umfragen, ist eine Mehrheit für die Umkehr der Erklärungslast. Sonntag wird man sehen.

In Deutschland wurden 2020 knapp 5000 Patienten neu auf die Warteliste für ein Spenderorgan aufgenommen. 767 Personen auf dieser Liste sind im selben Jahr gestorben.

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