Analyse NRW steckt im Studienplatz-Dilemma

Düsseldorf · Mehr Bewerber – härtere Auswahl: Vielerorts in NRW verschärft sich der Numerus clausus. Das gilt auch für Mangelfächer, in denen eigentlich händeringend Nachwuchs gesucht wird. Eltern und Lehrer sind alarmiert.

Svenja Schulze blickt voraus. Weit voraus. Die Hochschulen müssten vorsorgen für die Veränderung der Studentenzahlen, sagte die NRW-Wissenschaftsministerin und SPD-Politikerin unlängst. Schulze meinte allerdings nicht ein Plus, sondern ein Minus an Studenten: Ab 2020 würden sich voraussichtlich weniger junge Menschen für ein Studium entscheiden. "Deshalb müssen wir schon jetzt die Weichen stellen", mahnte die Ministerin.

Abgesehen davon, dass es auch Experten gibt, die einen deutlichen Rückgang der Studentenzahlen in absehbarer Zeit bezweifeln: Es ist nicht der Studentenschwund, der die Hochschulen im Land derzeit drückt. Im Gegenteil: Die Studentenzahlen steigen seit Jahren, und für 2013 wird der Höhepunkt erwartet. Denn dann verlassen der letzte Jahrgang des neunjährigen und der erste des achtjährigen Gymnasiums (G 8) gleichzeitig die Schulen. Mit fast 123 000 Studienanfängern rechnen die Kultusminister für 2013 in NRW – das wären zwar "nur" drei Prozent mehr als in diesem Jahr, aber die Hälfte mehr als 2008. Es gibt auch Prognosen, die für kommendes Jahr von 140 000 Erstsemestern in NRW ausgehen.

Dass bei solcher Nachfrage auch die Hürden höher liegen, konkret: der Numerus clausus (NC), ist kein Wunder. 48,6 Prozent der Studiengänge in NRW haben im laufenden Semester einen NC – 4,4 Punkte mehr als 2011. NRW aber steckt derzeit in einem Dilemma, das darüber hinausgeht: Ausgerechnet in vielen Mangelfächern steigt der NC. Und ausgerechnet in diesen Fächern wird die Auswahl damit noch härter.

Eine "Paradoxie" sieht deshalb Peter Silbernagel, Chef des Philologenverbands NRW: "Es gibt eine Reihe von Fächern, in denen wir händeringend Nachwuchs suchen. Gleichzeitig wird es fast unmöglich, in diesen Fächern ohne überragendes Abitur einen Studienplatz zu bekommen." So liege der NC für Mathematik auf Lehramt an Gymnasien in Duisburg-Essen bei 2,4, in Münster bei 2,0 und in Köln sogar bei 1,8. Noch widersinniger sei die Lage für Sonderpädagogen: Hier sei der erforderliche Abiturschnitt in Köln im Schwerpunkt Emotionale/Soziale Entwicklung plus Sprache binnen Jahresfrist von 2,3 auf 2,2 gestiegen, in den Schwerpunkten Lernen/Hören/Kommunikation und Lernen/Geistige Entwicklung jeweils auf 2,1. In Dortmund sei der NC für Sonderpädagogik innerhalb von vier Jahren von 3,2 auf 2,0 gestiegen.

Die Sonderpädagogik ist deshalb so wichtig, weil NRW bald Tausende Lehrer für behinderte Schüler braucht: Die Bundesrepublik hat sich verpflichtet, ein Schulsystem aufzubauen, das auch Angebote für Behinderte in Regelschulen einschließt ("Inklusion"); in einem Jahrzehnt soll der größte Teil der behinderten Schüler mit nichtbehinderten zusammen lernen – was dazu führt, dass die Regelschulen schon jetzt massiven Sonderpädagogen-Bedarf haben.

Die Klemme trifft aber auch mathematische, natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer. Beispiele: In Bonn liegt der NC für Biologie bei 2,3 – nach 2,5 im vergangenen Jahr. Während in Bielefeld 2011 noch alle Bewerber für Bioinformatik zugelassen wurden, liegt der NC dieses Jahr immerhin bei 2,6. In Wuppertal wird für Biologie ein 1,9er-Abi verlangt – noch mehr als vergangenes Jahr (2,0). Wer das nicht bieten kann, muss mehrere Semester warten oder auf ein Nachrückverfahren hoffen.

Bereits dieses Jahr habe man zehnmal so viele Bewerbungen wie Plätze gehabt, sagt ein Sprecher der Uni Münster: "Zum Winter 2013 könnte sich die Zahl der Bewerbungen nochmals fast verdoppeln." Schon jetzt sind dort zwei Drittel der grundständigen Studiengänge mit NC belegt – ein Drittel mehr als im Landesschnitt. Münster zeigt zugleich, dass durch Warten ein zu niedriger Abi-Schnitt auch nicht unbedingt ausgeglichen werden kann: 80 Prozent der NC-Studienplätze werden dort – wie an anderen großen Unis – nach Note vergeben, nur 20 Prozent nach Wartezeit. "In beliebten Fächern dürfte sich die Situation 2013 noch einmal verschärfen", heißt es an der Universität. In Duisburg-Essen hat man schon eine ganz konkrete Vorstellung, wie das aussieht: "Dann werden voraussichtlich alle Studienfächer mit NC belegt sein", sagt eine Sprecherin. Denn: "Eine Universität unserer Größe stößt mit 7000 Erstsemesterstudenten einfach an ihre Grenze." 2012 waren es bereits 6700.

Die Unruhe ist auch bei den Eltern groß. "Wozu haben wir das eine Jahr bei G 8 gespart, wenn unsere Kinder am Ende genauso lange in einer Warteschleife hängen, weil sie keinen Studienplatz finden?", fragt Ralf Leisner, Vorsitzender der Landeselternschaft der Gymnasien. Zwar sei die Landesregierung "emsig im Löcherstopfen – aber das bleiben eben Notfallmaßnahmen".

Er wolle ausdrücklich nicht die Hochschulen für die hohen NCs kritisieren, betont Silbernagel: "Die tun alles, um den Studentenberg zu untertunneln – sie stellen Zelte auf und mieten Kinos und weichen in Baumärkte aus. Aber so viele Baumärkte, um die zusätzlichen Bewerber auszulagern, gibt es gar nicht." Vielmehr habe das Land seine Pflicht nicht getan: "NRW läuft Gefahr, die Schulzeitverkürzung an den Gymnasien vor die Wand zu fahren. G 8 ist gescheitert, wenn wir so viele Studienbewerber 2013 vertrösten müssen."

Ministerin Svenja Schulze, die mehr Geld vom Bund für zusätzliche Studienplätze fordert, erwidert, der Anteil der NC-Studiengänge bewege sich seit Jahren auf vergleichbarem Niveau. "Die Anzahl allein sagt jedoch wenig über die Chancen auf einen Studienplatz aus. Bewerber sollten sich nicht von einer Bewerbung in ihrem Wunschfach abschrecken lassen", rät Schulze. Denn viele Bewerber – das bedeute auch viele Absagen und damit viele Nachrücker.

Die waren zuletzt wiederum selbst oft ein Problem. Denn viele Abiturienten bewarben sich gleich mehrfach, sagten aber nach einer Zusage an den anderen Unis nicht ab. Ergebnis: Viele Nachrücker konnten ihre Plätze erst spät im Semester oder gar nicht mehr vor Semesterende einnehmen. Fast 5000 kostbare NC-Studienplätze waren so 2011 in NRW unbesetzt geblieben. Seit diesem Jahr gibt es im Land ein Instrument, um die schlimmsten Auswüchse zu verhindern: Weil das geplante zentrale Online-Vergabeverfahren für Studienplätze mit örtlichem NC vermutlich auch zum Wintersemester 2013 nicht an den Start gehen kann, haben sich die Hochschulen auf einen gemeinsamen Stichtag geeinigt, bis zu dem alle Bewerber eine Zu- oder Absage haben sollen.

Zahlen für 2012 gibt es noch nicht. Aber erste Rückmeldungen lassen hoffen: Ein Einschreibechaos in der Dimension vergangener Jahre scheint es nicht gegeben zu haben. Immerhin.

(RP)
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