Analyse Nato - der unsanft geweckte Papiertiger

Düsseldorf · Die wiedererstarkte Militärmacht Russland irritiert den Westen. Die nördlichen und östlichen Nato-Mitglieder fordern Gegenmaßnahmen des Bündnisses. Doch wie reagieren, ohne ein neues Wettrüsten in Gang zu setzen?

"Steadfast Javelin", "standhafter Speer" lautet der Name des Nato-Manövers, das zurzeit in Estland stattfindet: 6000 Soldaten aus acht Nationen trainieren zusammen - die Nato will Russland demonstrieren, wie eng sie zusammensteht und dass das alte, einst sehr erfolgreiche Motto der Verteidigungsallianz weiter Gültigkeit hat: "Ein Angriff auf einen Mitgliedstaat wird als Angriff auf alle angesehen."

"Steadfast Javelin" ist vor allem eine Show für den russischen Präsidenten Wladimir Putin: Die Manöverreihe hieß ursprünglich "Kevadtorm" ("Frühlingssturm") und war eine jährliche nationale Übung, die kein Außenstehender beachtete. Nach der russischen Annexion der Krim machte die Nato auf Hilferufe der baltischen Staaten hin schnell ein internationales Manöver daraus: Andere Staaten hatten zwar schon immer ein paar Soldaten abgestellt. Aber jetzt tun sie es offiziell unter Nato-Kommando.

Diese Beruhigungsaktion für das Baltikum, für Polen und für Rumänien täuscht indes nicht darüber hinweg, dass das unerwartete russische Säbelrasseln, verbunden mit einer rasanten Aufrüstung, das westliche Verteidigungsbündnis vor eine Zerreißprobe stellt: Die Staaten im Norden und Osten sind in heller Aufregung über Putins Muskelspiele, die Staaten im Westen und Süden der Allianz würden dagegen am liebsten wegsehen.

Der Nato-Gipfel am 4. und 5. September in Wales dürfte die Gegensätze im Bündnis noch offener zutage treten lassen. Insbesondere die Bundesregierung wird sich der Frage stellen müssen, ob ihre Zurückhaltung angesichts des Ukraine-Konflikts noch zeitgemäß ist. Eine allgemeine Bestandsaufnahme der noch vorhandenen militärischen Kampfkraft und eine Überprüfung der Kommandostruktur in der Nato sind darüber hinaus überfällig. Es sind aber vorrangig die alles entscheidenden Grundsatzfragen zu klären: Soll die Nato in Russland wieder einen Gegner sehen, wie es Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen fordert? Und soll sie überhaupt noch zu einer glaubwürdigen militärischen Abschreckung befähigt werden, was alle Mitglieder erheblich in die Pflicht nähme?

Nato-Länder wie Norwegen, das 2015 sogar die allgemeine Wehrpflicht auf Frauen ausdehnt, fühlen sich durch Moskaus Expansionspolitik zunehmend bedroht; auch neutrale Nachbarländer rüsten aus Angst vor Russland auf. So kauft Finnland 100 "Leopard"-Panzer von den Niederlanden - einem jener Nato-Staaten, die sich wie Deutschland nach dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr als gefährdet ansehen. Den Haag hat darum zum Entsetzen der Nato seine Panzertruppe gleich ganz abgeschafft - das spart schließlich viel Geld.

Rasmussen schlug bereits vor mehr als einem Jahr besorgt Alarm, als sich noch niemand im Westen die Krim-Krise hätte vorstellen können: Die Fähigkeiten des Bündnisses schrumpften zu stark. Mit einer plakativen Tabelle im Ampelsystem versuchte sich der Däne als Mahner: Es gebe 15 Problemzonen bei der vereinbarten Ausstattung der Streitkräfte. Die untersuchten Projekte seien meist orange oder rot markiert ("mittlere und große Probleme"). Gelbe Punkte ("mäßige Probleme") seien seltener, grüne ("keine Probleme") tauchten gar nicht auf. Von der Luftbetankung über Präzisionsmunition bis hin zur Ausrüstung von Spezialkräften reichte die Mängelliste.

Rasmussen rief jetzt erneut zu größeren militärischen Anstrengungen auf. Doch er ist nahezu ohnmächtig in einem komplizierten System mit 28 Mitgliedstaaten und entsprechend vielen Meinungen. Spötter haben die Abkürzung Nato schon immer gern mit "No action, talk only" ("Nicht handeln, nur reden") erklärt. Die feste Vereinbarung der Mitglieder, jährlich mindestens zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, wird von den meisten Staaten ignoriert.

Zu den Bremsern gehört Deutschland, und dies aktuell mutmaßlich gleich aus mehreren Gründen: Man will nicht durch militärische Gegendrohungen den Kontakt zu Moskau gefährden und die engen Wirtschaftsbeziehungen beider Länder aufs Spiel setzen. Außerdem hält man es innenpolitisch nicht für durchsetzbar, den Verteidigungsetat massiv zu erhöhen und die 2011 ausgesetzte Wehrpflicht wieder einzuführen - vermutlich zu Recht: Einer Umfrage der Körber-Stiftung zufolge sind 60 Prozent der Deutschen der Meinung, dass sich ihr Land außenpolitisch zurückhalten sollte; 82 Prozent wünschen sich weniger Bundeswehr-Einsätze.

So wirkt es paradox: Während Russland weitere Panzerbataillone und Bomberstaffeln in Dienst stellt und dies durch seinen Propaganda-Apparat stolz verbreitet, wird in Deutschland unbeirrt weiter abgerüstet - obwohl ausreichend Anlass besteht, die gegenwärtige Neuausrichtung, sprich: den Abbau der Bundeswehr, infrage zu stellen.

Die deutsche Unterstützung der Nato-"Abschreckungsmanöver" an der Nordost-Flanke fällt zurzeit ebenfalls auffällig dürftig aus: An "Steadfast Javelin" ist möglicherweise nur ein einziger deutscher Soldat beteiligt, immerhin der Leitende der Übung. Doch General Lothar Domröse ist als Befehlshaber des Joint Force Command in Brunssum fest zur Nato abgestellt, steht also gegenwärtig nicht unter deutschem Befehl.

Mehr denn je scheinen die USA der verlässlichste Bündnispartner zu sein: Obwohl sich das US-Militär auf Weisung Washingtons nach Asien ausrichtet, sprangen amerikanische Fallschirmjäger jüngst spektakulär in Polen ab. Dieses Signal an Moskau reicht deutlich weiter als bloßer Beistand mit Truppen: Putin soll klar werden, dass sich Europa in letzter Konsequenz auch des nuklearen Schutzschirms der USA sicher sein kann, also durch die parallel laufende Modernisierung der russischen Atomraketen nicht erpressbar wird.

(RP)
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